Ich gebe zu, ich tue mich sehr schwer mit Jahresrückblicken. Das liegt vermutlich daran, dass mein Gedächtnis einem spaghetti strainer gleicht und ich schon Probleme habe, mir ne normale Einkaufsliste zu merken. Oder deinen Geburtstag. Außerdem schlafe ich quasi keine Nacht mehr durch und frage mich stattdessen, in welcher Reihenfolge ich meine Lieblingsalben dieses Jahr bloß anordnen soll? Ich terrorisiere mittlerweile schon mein komplettes Umfeld mit diesen Überlegungen. Die gesamte Redaktion habe ich mehrfach genötigt, endlich ihre Top-10 Listen rauszurücken. Nur damit ich abgucken kann. Ich habe das Gefühl, die Auslastung meines Hirns ist zum ersten Mal in 2021 auf 101% overload.
Allgemein möchte ich schon mal ganz am Anfang loswerden, dass ich das Jahr sehr viel besser fand, als das dämliche 2020. Na klar, auch dieses Jahr hatte uns das Virus fest im Griff. Aber im Gegensatz zum letzten Jahr, keimte wieder etwas Hoffnung in mir auf. Irgendwie fühlt sich 2021 für mich an wie eine frisch aufgeräumte Wohnung. Allerdings hast du halt nicht selbst aufgeräumt, sondern irgendein völlig übermotivierter Hans-Gerd, früh morgens nach der Houseparty. Deshalb ist vielleicht noch nicht alles wieder so ganz an seinem Platz.
Aber ich bin auch ganz ehrlich mittlerweile einfach an einem Punkt, an dem ich nur noch das Positive sehen möchte. Das Jahr war toll! War’s echt!!!1!!11!
Herzklopfen und Rausch
Zum Beispiel habe ich noch nie mehr Musik gehört, als in diesem Jahr. Ich glaube ich habe sogar meine eigenen Rekorde aus verschmockten Teenagerzeiten gebrochen. Und da musste ich die AA-Batterie meines Mp3-Players zeitweise täglich wechseln! Natürlich habe ich diese Tatsache hauptsächlich untoldency zu verdanken. Jahresrückblick bedeutet für mich nämlich auch auf ein (1) Jahr Musikjournalismus im süßesten und diversesten Profi-Blog der WELT zu schauen. Durch diese glückliche Fügung unseres Zusammenfindens, habe ich so viele talentierte Künstler:innen kennenlernen dürfen, das hätte mein kümmerlicher Spotify Mix der Woche mit seinen dünnen Ärmchen sicherlich niemals gestemmt. Durch untoldency kann ich endlich über all das schreiben. Schreiben, wenn im Sommer alle meine Freunde im Biergarten sitzen. Oder sich im Winter in meiner eigenen Küche ohne mich mit Glühwein betrinken. DANKE EY! haha
Um ein paar absolut heiße Interpret:innen Geheimtipps aus diesem Jahr bin ich natürlich nie verlegen: da wäre zum Beispiel Pink Lint, der ein tolles Anti-Folk-Avantgarde Album veröffentlicht hat; das Indiekollektiv die neue leichtigkeit mit einem jetzt schon legendären Split-Release auf Vinyl; die Band Micro Circus mit ihrem düsteren Synth-Rocksound, der so viel größer klingt als ich erwartet hatte; und natürlich Botticelli Baby mit DER Jazzplatte für Nicht-Jazzer (wie mich). Das alles (und noch viel meeehr) nur durch die tollen Agenturen und das ziemlich familiäre Promonetzwerk. Tja, ich wette ihr habt es kaum bemerkt, aber da sind wir dann auch schon voll im Rückblickmodus!
Wenn ich Musik höre, möchte ich, dass da war passiert in meinem Kopf. Ich möchte eine schäumende chemische Reaktion. Kleine Explosionen. Herzklopfen. Rausch! Ich liebe wirklich nichts mehr, als akustisch etwas Neues zu erfahren und meine Nerven von Songs so lange kitzeln zu lassen, bis ich ein bisschen Pipi… naaaaaah, lassen wir das.
Jedenfalls müsst ihr über mich wissen, dass mir absurde Musik und alles, was erstmal komisch klingt, ziemlich sicher gefällt. Mein Faible! Gleichzeitig bin ich aber auch einfach eine ziemlich basic person. Ich liebe Popmusik und alles, was ich schnell mitsingen kann. Wer diese beiden Welten miteinander verbinden kann, hat mich.
Das UK-Post-Punk-Revival und ich
Ein Genre, das vor einiger Zeit ganz stürmisch die Tür zu meinem Herzen eingetreten hat, ist POST-PUNK. Und 2021 war definitiv ein Jahr im Sternzeichen Post-Punk! Man kann wohl sagen, dass vor allem das UK-Post-Punk-Revival in die zweite Runde ging. Es gab so viele Veröffentlichungen, dass ich zeitweise den Überblick fast verloren habe und jede Band irgendwie gleich klang lol. Naja, eine gewisse Ähnlichkeit weisen diese Bands halt auch immer auf: 4-5 englische Jungs (meistens) mit Segelohren in absolut feschen Klamotten (als hätte man einen HUMANA-Container gesprengt), viel viel Gitarrenkrach und ein wütender, oberkörperfreier Frontmann, der uns seine schlechte Laune ins Gesicht spuckt. Ich weiß auch nicht warum, aber manchmal lasse ich mich irgendwie echt gerne VOLLE KANNE von Millenials mit britischem Akzent anschreien.
Den Anfang machten dieses Jahr shame mit ihrer Platte „Drunk Tank Pink“, das nach unfassbar vielen Live Shows der Band nun ihr zweites und (imho) bisher bestes Album ist. Auch die Idles legten vor kurzem erst mit „Crawler“ nach, wobei mir da im Vergleich zum Vorgänger die politische Schlagkraft und die typische Kaltschnäuzigkeit etwas abhanden gekommen scheint. Bemerkenswert für mich waren dagegen definitiv Squid mit ihrem Debüt „Bright Green Field“, das noch etwas raffinierter und dringlicher wirkt, als die anderen Alben dieser Kategorie. Natürlich haftet auch diesem Genre eine weiße, männliche Note an. Allerdings gab es dieses Jahr Hoffungsträger mit weiblichen Protagonistinnen. Zum einen wären da z.B. Dry Cleaning mit der gefeierten Platte „New Long Leg“. Die charismatische Sängerin Florence Shaw lernte ihre Band bei einem Karaokeabend kennen und hatte— ohne Scheiß jetzt — bis dato noch nie vorher gesungen. Gut, genau genommen singt sie jetzt eigentlich immer noch nicht.
Zum anderen ist da ein ganz heller Stern am Post-Punk-Himmel aufgegangen. Dieser trägt den Namen Wet Leg und weist uns hoffentlich den Weg zur Krippe (wow). Das Frontfrauenduo von der Isle of Wight hat allein mit seiner Single „Chaise Lounge“ den Olymp quasi schon bestiegen und letztes Jahr so ziemlich überall live gespielt, wo ging, inklusive US-Tour. Ich sags mal so, das Album kommt nächstes Jahr und wird ziemlich sicher alles abreißen. Da freu ich mich drauf.
Nerven schreddern mit Black Midi <3
Dabei sollte es aber nicht bleiben, denn auch Black Midi (mittlerweile wohl LEGENDENSTATUS) hat ihr heißersehntes, zweites Album „Cavalcade“ veröffentlicht. Darauf hatte ich tatsächlich sehr hingefiebert, weil mir das erste Album „Schlagenheim“ Augen, Ohren und die sämtlichen anderen Sinnesorgane geöffnet hat. Ich würde sogar behaupten, Black Midi ist der Grund, warum es Rockmusik überhaupt noch geben sollte. Tatsächlich haben sie sich auf dem neuen Album etwas vom ursprünglichen Post-Punk entfernt und ihren ganz eigenen, naja, keine Ahnung was genau, erschaffen. Ein wilder Mix aus Noise, Jazz und steilen Gitarrenwänden. Ihr sagt Krach. Ich sage Avantgarde. Mich fasziniert dieses Album nach wie vor. Meistens darf ich es nur alleine hören, weil (fast) alle meine Freunde in Knoblauchöl getränkte Cruzifixe nach mir werfen und anfangen zu fauchen, wenn ich es in einer gemütlichen Runde mal wieder auflegen möchte. Naja! Es ist eben speziell. Give it a turn tho!
Kommen wir zu meinen absoluten Highlights aus 2021. Ich habe erst beim Schreiben dieses Textes gemerkt, dass ich meine drei Lieblingsreleases dieses Jahr auch tatsächlich live erleben konnte. Das bestärkt mich natürlich nochmal mehr in meiner Entscheidung, den folgenden drei Bands die Krone aufzusetzen:
Highlight 1: International Music und der „Ententraum“
Ein (erneut) epochales Werk, ihr könnt es mir glauben. Ich bin in eine Band verliebt und diese Band heißt International Music. Dieser klangvolle Bandname verrät schon sehr viel über den Humor, allerdings recht wenig über die Musik dieses Trios. Für mich klingt diese Band irgendwie immer nach Birkenstocksandalen, 80er Jahre Elektronik (Made in Germany) und Maggi. Das verrät zugegebenermaßen noch weniger über die Musik der Band. I know. Mit „Ententraum“ bescherten sie uns jedenfalls meiner Meinung nach einen Geniestreich. Deutschsprachige Texte im endlos weiten Raum, die X-Achse heißt ULKIG und die Y-Achse PSYCHEDELISCH. Der Krautrock wurde wieder ausgebuddelt und mundzumundbeatmet. Und er lebt, Leute, ER LEBT!
Ich bin schon fast in Ohnmacht gefallen, als Anfang des Jahres ihr Auftritt beim ESNS-Festival gestreamt wurde (Live-Konzerte waren zu dem Zeitpunkt undenkbar) und dort der Song „Museum“ zum ersten Mal live zu hören war. Ein gelungener Vorgeschmack und damals wusste ich schon: das Album muss großartig werden. Und es ward großartig! Im Sommer durfte ich International Music dann tatsächlich mal wieder richtig live erleben, Open Air, Zitadelle Mainz. Es waren vielleicht 200 Sitzplätze, es gab ästhetische Drinks und trotz des großen Geländes und der strengen Coronaregeln, kam eine richtig intime Stimmung auf. Wieder einmal hat mich diese Band gelehrt, dass nicht alles immer perfekt sein muss. Charme auf der Bühne ist eben der Gamechanger. Und halt krasse Songs. Das war das erste Konzert seit Beginn der Pandemie für mich. Das erste Mal wieder Bassdrum in der Magengrube spüren. Das erste Mal Glück dieses Jahr.
Highlight 2: ZOUJ und sein „Tagat Mixtape“
Durch Zufall bin ich auf das experimentelle Projekt Zouj von Tausendsassa und Wahl-Leipziger Adam Lenox gestoßen. Als Zouj hat eben jener im Sommer das Mixtape „Tagat“ zum Besten gegeben. Und ja, es ist tatsächlich auch als Tape erschienen! Die Vielfalt an Sounds, seien sie durch schrankwandgroße Synthesizer generiert oder einfach mit einem Handy aufgenommen, ist überwältigend. Es gibt am laufenden Band Überraschungen in seiner Musik. Hier eine Transition, da eine Pause. Irgendwo im Hintergrund abgelenkt von einem Endlosecho, und die 808-Kick boxt dir in die Leber. Ich habe sowas noch nie vorher gehört.
Eine meiner schönsten Erfahrungen war dann die Liveperformance dieses Ausnahmekünstlers. Die Umstände waren strange. Mein bester Freund und ich sind für dieses Konzert über eine Stunde in die komplette Walachei gegurkt. Es hat so krass geregnet, dass der Scheibenwischer fast seine Karriere an den Nagel hängen musste. Das klitzekleine Dorf namens Kusel, kurz vor Kaiserslautern, beheimatet genau einen (1) Liveclub. In einem alten, maroden Kino spielen rund ums Jahr tatsächlich internationale Indie- und Punkbands. Und ganz ehrlich, bei dem Booking dort bekommen so manche Großstadtschuppen wässrige Münder. Allerdings machte dieses ganze Szenario zugegeben auch genau den Eindruck, den wir uns kaum trauten, laut auszusprechen: wo zur Hölle sind wir hier? Trotz aller eitlen Vorurteile wurden wir mit einer heftigen (aber zu kurzen!) Show von Zouj belohnt und mischten uns unter die ca. 30 glücklichen Dorfbewohner mit exzellentem Musikgeschmack.
Highlight 3: Black Country, New Road und ihr Debüt „For the first time“
Ja, das habe ich mir zum Schluss aufgespart. Ich sage schon so circa seit der Veröffentlichung des Albums im Februar, dass es das Album des Jahres wird. Und dabei bleibe ich jetzt auch. Black Country, New Road — das sind sieben Musiker:innen aus London, die alle exakt so aussehen, wie die Charaktere aus dem English G 2000 Schulbuch. Der musikalische Mix aus Post-Rock, Jazz, Folk und Punk lässt für mich einfach keine Wünsche mehr offen. Die Texte des Sängers Isaac Wood sind das hässliche Spiegelbild seiner Generation, sie betören und verstören zugleich. Übrigens stammt der Name Black Country, New Road aus einem Zufallsgenerator und das komplette Artwork besteht aus stock photos. Hier wurde für mich alles richtig gemacht. That’s my vibe.
Auch live hat mich dieses „Miniorchester“ sehr überzeugt. Ich konnte sie, noch kurz vor allen Konzertabsagen, in Luxemburg sehen. Es gab keine Show, es gab nicht mal ein Hallo, geschweige denn Ansagen zwischen den Songs. Das ist aber eben alles Firlefanz, den diese Band nicht braucht. Dicht an dicht standen wir mit offenen Mündern, die wir nur zumachten, um uns beim Pogo nicht die Zunge abzubeißen. Ich habe sogar ein Tourplakat signiert bekommen. Drummer Charlie Wayne schrieb: „ahhhhhhhh“, Isaac Wood unterschrieb mit „Signature“.
Tja und während ich hier noch sitze und schreibe, erreicht mich die Nachricht, dass auch für Geimpfte und Genesene das gesellschaftliche Leben bald wieder sehr kurzgestutzt wird. Da bin ich doch wirklich dankbar, dass uns 2021 zumindest zeitweise wieder sehr viel Spaß und Lebenslust in Form von Konzerten und Parties bieten konnte. Für die langweiligen Abende Zuhause, empfehle ich euch zukünftig noch eines meiner liebsten Lockdown-Hobbies: TIE DYE! Für die, die es nicht kennen: Das ist wie Batiken, nur andersrum. Ihr braucht dafür nur eine kleine Wanne, Chlorbleiche, Handschuhe, Maske, eine Sprühflasche und ein paar Gummibänder. Passt nur auf, dass ihr beim Kauf nicht von den Cops beobachtet werdet. Sieht bisschen komisch aus im Einkaufswagen…
Zum Schluss möchte ich euch noch ein wenig belohnen. Ich habe ja zu Anfang schon geteasert, dass ich echt lang an meiner TOP-10 Alben des Jahres rumgedoktert habe. Nun möchte ich sie euch präsentieren! Einige Namen habt ihr bereits oben im Text gelesen. Falls ihr nur schnell gescrollt habt, um bei meiner TOP-10 abzugucken: Das ist ok für mich. Ihr seid ja schließlich auch auf den clickbait reingefallen.
Viel Spaß!
Ich habe gelogen, es ist eine TOP-11, sorry.
- Arlo Parks – Collapsed in Sunbeams
(verrückt, dass diese Platte nur auf die 11 kommt. Grandioses Soulalbum mit 90s Trip-Hop Einflüssen und extrem wichtigen, queeren Lyrics) - Japanese Breakfast – Jubilee
(die stärkste Weiterentwicklung im musikalischen Sinne für mich. Michelle Zauner ist eine bemerkenswerte Frau, jede:r sollte sie kennen.) - Squid – Bright Green Field
(diese steigende, irgendwie unangenehme Spannung in „Narrator“… Gänsehaut) - Faye Webster – I know I’m funny haha
(country-ish, folk-ish, also eigentlich so gar nicht mein Fall. Sie schafft es aber, diese altbackenen Genres irgendwie wieder knusprig zu machen. Übrigens auch mega Musikvideos!) - Black Midi – Cavalcade
(WARUM haben alle Bands jetzt wieder ein Saxophon im Kader?!?) - Audiobooks – Astro Tough
(keine Ahnung WAS das ist, aber ist krass. Electropunk trifft Artrock, dazu female spoken word von Künstlerin und Model Evangeline Ling. David Wrenchs neuestes Meisterwerk) - Theon Cross – Intra-I
(der britische Jazztubist zieht alle Register, ob Hip Hop, Dub oder RnB. Dazu holt er alles aus seiner Tuba raus. Sehr coole Features. Ein akustisches Erlebnis!) - Dijon – Absolutely
(Frank Ocean meets Bon Iver meets James Blake… RnB wie ich ihn sehr, sehr gerne habe. Wären da nicht diese drei heißen Feger auf den ersten Plätzen, „Absolutely“ hätte Chancen gehabt) - International Music – Ententraum
(„Museum“, „Zucker“ und „Raus aus’m Zoo“ sind meine Lieblinge! Unbedingt anspielen) - Zouj – Tagat
(hier solltet ihr alles hören und, ganz wichtig, die krassen 3D-Animationen gucken!) - Black Country, New Road – For the first time
(Slint und Talk Talk geben sich die Hand und schauen sich ganz tief in die Augen. Was dann passiert, ist einfach unglaubl….
Ganz groß. Mehr kann eine Rockband nicht leisten)
Und damit sage ich VIELEN DANK an euch alle. Für’s Lesen, Geheimtipps austauschen, Anhören, Streiten. Wir lesen nächstes Jahr voneinander. Frohes Fest!
Hier habe ich euch noch eine Playlist mit meinen Hits des Jahres gemacht: