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Pink Lint mit “Ü”: Imperfektion in Perfektion

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Wenn ich Musik von Pink Lint höre, stelle ich mir immer eine futuristische Maschine vor, die ein ganzes Orchester auf einmal abspielen kann. Oder noch viel besser: Ein steampunkmäßiger, mechanischer Roboter mit einer großen Trommel auf dem Rücken und zahlreichen weiteren Instrumenten in seinen zahlreichen weiteren Armen. Denn was auf dem neuen Album „Ü“ so zu hören ist, ist gewaltig an Soundviellfalt und detailliert bis in alle Poren. Wie Oliver Burghardt alias Pink Lint das macht? Ich habe keine Ahnung! Und das ist absolut faszinierend.


Wimmelbild

Abreißen, Neubauen. Nach diesem Motto scheint der Berliner Musiker seine Musik zu konzipieren. So zerpflückt er beispielsweise bestehende Orchestersamples, Field Recordings und weitere Instrumentals und setzt sie, wie in einer Collage, wieder zusammen.

Es gab mal eine Zeit in meinem Leben, da habe ich gerne mal ne Collage aus Partybildern, lustigen Sprüchen und Eintrittskarten gebastelt (macht das heute noch jemand?). Jedenfalls kam es dabei immer drauf an, diese Fetzen genau an den richtigen Stellen über- und untereinander zu verwursten, sodass es am Ende ein stimmiges Ganzes ergab. Gar nicht so leicht. Und erst geil, wenn es ganz fertig war.

Ich stelle mir das genau so bei den musikalischen Collagen auf „Ü“ vor. Ich kann deswegen vorab eines mit Gewissheit sagen: Pink Lint und sein Produzent David Hoffmann müssen STUNDEN (Tage, Wochen) damit verbracht haben, nach Sounds und Samples zu graben, sie zu dekonstruieren und wieder neu zusammenzupappen. Und wenn es dann ganz fertig ist, wie jetzt, hat es eine krasse Fernwirkung und alle so „whoa!!!“.

Die Texte auf „Ü“ suchen da eher den direkteren Weg und sind, um beim Bild zu bleiben, der Kleber, der die Collage zusammenhält. Insgesamt geht es wohl darum, verlorene Freiheiten wiederzuerlangen. Und wenn sie niemals da waren, selbstreflektiert an neuen Herangehensweisen zu arbeiten. Kurz gesagt: Pink Lint seziert seine Persönlichkeit und analysiert sein Verhalten in Bezug auf die zentrale Frage: Wo steht mir mein Ego im Weg? Völlig transparent, auf der Suche nach einem positiven Mindset. Denn ein „Ü“ ist ja schließlich auch ein lächelnder Buchstabe.


Einhornballon

Im Song „Bad Idea“ geht es um eine Form von Co-Abhängkeit in Beziehungen. Nicht immer schön, sowas. Klar, man sorgt sich halt manchmal. Will wissen was der*die andere so macht, wie es so geht. Und dann sorgt man sich vielleicht einmal zu oft. Offenbar kann dieses „Klammern“ ganz schön in den Wahnsinn treiben und führt im Song allmählich zur kompletten Selbstaufgabe. Musikalisch untermalt er das mit einem zunächst ziemlich undurchsichtigen Songschema. Kreuz und quer im Raum verteilte Streicherensembles und die immer mal hervorblickende Ukulele (ist doch ne Ukulele, oder?) sorgen für entsprechendes Chaos, das erstmal geordnet werden will.

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Fleißigen UNTOLDENCY-Leser*innen dürfte der Track „Windhound“ auch schon bekannt vorkommen. Vor einiger Zeit konnten wir gemeinsam bei UNTOLDENCY die exklusive Videopremiere des Songs feiern (click here). Auch im Kontext des Albums funktioniert der Song super. Ziemlich selbstreflektiert schildert Pink Lint hier seine Bewunderung einer extrovertierten Persönlichkeit. Eine, die immer nur das macht, was sie will und damit prima durchs Leben kommt. Spontanität und „Fuck-Off“-Attitüde sind bei anderen Menschen oft bewundernswert und man selbst scheint daneben manchmal etwas lost unterzugehen.

Um dem Überbegriff „Freiheit“ jetzt auch noch eine schöne Metapher zu verpassen, bedient sich Pink Lint auch weiterhin gerne in der Tierwelt. Den Windhund hatten wir ja jetzt schon, der durch seine schnelle und agile Art eigentlich ja schon so etwas wie Freiheit verkörpert. Noch besser können das aber? Vögel! In „Bird“ sind unsere gefiederten Freunde für mich das Sinnbild für Genügsamkeit und Frieden. Etwas, das im rasenden Alltag einfach oft fehlt, aber eigentlich doch immer greifbar nah ist. Die unsichtbare Hand auf unserer Schulter, die uns sagt: „Hey, alles gut, Mensch!“ Wie in einem ziemlich klassischen Folk Song begleitet sich Pink Lint anfangs nur mit Gitarre und föhnt uns mit seinem angenehmen Bariton die Härchen auf den Armen zu Berge. Der Autotuneeffekt im Refrain flasht mich wahrscheinlich so, wie der inhalierte Einhornballon auf der Kirmes es getan hätte:


„let’s go to the fair
buy a balloon unicorn and inhale it
let’s get some weed and get high first
take this seriously, please
my day is wide open“

YouTube

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Times are strange

„Happy Meals“ – das ist für mich der absolute Kracher auf dem Album. Spannungen bauen sich im Song auf und wieder ab. Dann immer wieder diese epischen Trommel-Fill-Ins. Dort ein paar Orchestral Hits, dann wieder nur Gesang mit Gitarre und leisem Synthesizer. Aufruhr – Abklingen, Aufruhr – Abklingen. Thematisch in den Lyrics auch; ist dieser Song vielleicht sogar ein politischer Song? Ich habe auf jeden Fall beim ersten Hören gestaunt, wie gut die Lyrics zu den aktuellen Debatten und Protesten, national und international, passen. Kaum waren sie da, sind sie auch wieder verschwunden. Und dann diese unglaublich gute Zeile:


„we’re throwing happy meals at the establishment“


Ähm? Wie geil? Das ist so ein wundervolles Bild. Ich seh’ mich auch direkt auf ‘nem Scooter die fettdurchtrieften ghetto grocery bags gegen die Fassaden der Mächtigen werfen. Drive by, pow pow pow.
Für mich jedenfalls steckt da allerdings noch einiges mehr hinter. Auf den ersten Blick wirkt diese „Waffe“ natürlich etwas harmlos und unbeholfen, auf den zweiten Blick öffnen sich meine Augen aber immer weiter. Denn in diesen „Happy Meals“ steckt quasi der komplette Kapitalismus, die Globalisierung, der perverse Fleischkonsum und damit die Zerstörung unserer Erde. Wow. Und das werfen wir den Verantwortlichen einfach wieder zurück vor die Füße.


„it’s just how it is, they say,
until it is no more“


Damit bringt er im gleichen Text auch direkt ein viel gehörtes Gegenargument. Es ist halt wie es ist, und dabei bleibt’s! Hm, echt? Naja, jedenfalls bis zum nächsten trendenden #riot-Hashtag. Ein schöner Denkanstoß.

„Mama sagt“ fügt sich nahtlos an und bildet auch thematisch eine schöne Ergänzung. Während ich mich bei „Happy Meals“ vielleicht gefragt habe, ob hier der Generationenkonflikt eine Rolle spielt, wenn es um Verantwortliche und Leidtragende aktueller und zukünftiger Probleme geht, liefert dieser Song eine mögliche Antwort. Auch weil der Song für sich genommen eigentlich etwas sehr unbeschwertes aussstrahlt — nämlich Mamas Rat zu folgen, eine fünf auch mal gerade sein zu lassen— wirkt er im Kontext einer ganzen Palette drohender globaler Katastrophen natürlich umso pikanter. „Times are strange“, das ist wahr. Und vielleicht ist jetzt auch nicht mehr so viel Zeit, die Füße hochzulegen.


Rubrik: Okkultes

Zwischendurch schielt dann auch immer mal wieder der Folk zwischen den vielen Schichten der Collage hervor. Generell würde ich sogar behaupten, die (Akustik-)Gitarre und Oliver Burghardts angenehm sanfte Stimme bilden das Grundgerüst in nahezu jedem Song. Auch wenn er selbst seine Musik vorzugsweise als Anti-Folk bezeichnet, sind die folkigen Singer-Songwriter Einflüsse nicht zu überhören. Verheimlichen muss er sie ja auch gar nicht, denn ein Song wie „Zoo Animal“ bietet eine angenehm straighte Abwechslung auf dem Album. Back to the roots, nur eine Gitarre und eine schöne Geschichte.

Mit großen, stampfenden Schritten kommt gegen Ende „Sunbright Motel“ auf uns zu. Eine tiefe gestrichene Kontrabasssaite (glaub ich?), schwankend im Takt. Dachte direkt, das könnte auch der Soundtrack eines Tarantino-Westerns sein. Irgendwo weit hinten vermutet man leises Hufklappern und ein Schellenkranz scheppert im Takt, wie die Sporen an den Stiefeln. Insgesamt schon eher eine düstere Stimmung, die hier anklingt. Auch beim Blick in den Text gruselt’s mich schon etwas:


“are they killing a goat everyday –
at the the Sunbright Motel?”


…ehhhä? Da musste ich dann mal kurz schlucken. What? Also auch inhaltlich ein Tarantino-Film? Okay, also noch mal hören. Dann noch mal lesen. Was will mir Pink Lint da mitteilen? Verpasse ich da irgendwie ne Metapher oder so?
Ich habe dann beschlossen, „killing a goat meaning“ einfach mal zu googlen. Ich kann euch dazu vorab zwei Dinge sagen:

  • Tut das a) eurem Suchverlauf nicht an (wer weiß, wer das alles mitliest oder später mal schnell an eurem PC was googlen will)
  • und b) GEHT AUF KEINEN FALL AUF BILDER!

Ich weiß zwar jetzt, wie eine Ziege richtig geschlachtet wird, eine bestimmte tiefere Bedeutung habe ich allerdings nicht gefunden. Außer die, die ich ohnehin schon vermutet hatte: Opferkult. Muhahahaha. (*Licht geht aus, Orgelmusik ertönt*)

Pink Lint sagt selbst zu diesem Song:


Das “Sunbright Motel” im Song ist für mich ein Last-Resort-Ort, in dem alles möglich und alles ok ist, egal wie abgefuckt man ist. Man ist eingeladen, Urschrei-artig auszurasten und zu lernen – so sehr, dass man die eigenen Grenzen kennen lernt.”

Cool, dann passt das ja mit dem Opferkult ganz gut. Denn wenn im Sunbright Motel jeden verflixten Tag den Göttern eine Ziege geopfert wird, hat man dort offensichtlich viele Sünden zu büßen. Zwinker 😉

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Zum Schluss geht auf „Ü“ aber noch mal richtig die Sonne auf! „Oh what a Day“ — Oh happy Day! Ein wahrhaftiges Lobpreislied. Denn zum Abschied soll hier mal ordentlich „Cheers!“ gebrüllt werden: Auf’s Leben! Keine Zeit mehr verschwenden! Nicht verrückt werden auf der Suche nach der Essenz des Lebens! Und, am allerwichtigsten, auch hin und wieder mal den Booty shaken. Eine ziemlich einfache Anleitung, bei der ab und zu tatsächlich die olle rosarote Brille nochmal etwas nachhelfen kann. Das selbstbetitelte „Gummiorchester“ (großartig!) umhüllt hier den zerbrechlichen Kern des Inhalts mit einer stoßfesten Schutzschicht.


Fazit

„Happy Accidents“, also kleine, ungewollte klangliche Zufälle, und das „Zulassen von Imperfektion“ haben, laut eigener Aussage, maßgeblich zum Sound von „Ü“ beigetragen. Und abschließend bleibt nur zu sagen, dass trotz tolerierter Ecken und Kanten am Schluss alles ziemlich perfekt für uns Hörer kuratiert wurde. Imperfektion in Perfektion. Die Bandbreite seiner Musik ist riesig und reicht von zärtlichen Chansons bis zu aufbrausenden, orchestralen Höhepunkten, nach denen uns allen die Ohren klingeln. Pink Lint ist ein Klangkünstler mit einem eigenen Museum. Dieses Museum heißt „Ü“ und Besuch ist Pflicht!

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Fotocredit: Neven Allgeier, Marie-Luise Knauer

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