“It seemed like pure chance to wash up where we did. As I followed him across the small, frigid island a few things happened: Feeling came back to my hands and feet, we were given dry clothes, and I began to realize – chance had nothing to do with this place.”
So hat Tyler Joseph, Leadsänger der Band Twenty One Pilots vor einer Woche das Musikvideo zu „The Outside“ angeteasert. Zitate aus den neuen, kryptischen Briefen von Clancy. Die Figur, um die die Band seit Jahren ein ganzes Universum an komplexen Handlungssträngen, welche den Kampf mit der eigenen mentalen Gesundheit symbolisieren, aufbauen. Ein Universum voller Gefängnisstädte, Bischöfe und Doppeldeutigkeiten. Erschaffen von der Band, die 2017 ihren Grammy für „Stressed Out“ in Unterhosen entgegengenommen hat. Eigentlich braucht’s nur diese zwei Gründe, um mich mit (fast) 26 wieder voll in das Fangirl-Leben rein zu stürzen.
Ersterer wurde mit dem neuen Musikvideo zu „The Outside“ wieder völlig belebt:
Disclaimer: Ich weiß nicht, wie es ist, das Video ohne inhaltlichen Kontext zu gucken. Ich tippe aber auf eher verwirrend. Nun könnt ich euch ganz kompliziert erklären, warum dieses Musikvideo und die ganze Storyline besser ist als alles, was ich auf dieses Jahr auf Netflix gesehen hab. Aber da würde ich eher aussehen wie der Dude von „It’s Always Sunny In Philadelphia“. Deswegen hab ich versucht, journalistische Struktur in das Ganze zu bringen und es, wie damals im Deutschunterricht, in Akte zu unterteilen. Denn ja, das wird ein ganzer Film.
(Um euch bis dahin nicht zu verlieren, hier ein paar Fragen, die im Folgenden beantwortet werden: Woher kommt der Unterwasserdrache und ist er gleichzeitig ein Bischof? Wer sind diese süße Wesen, wo hat Tyler die heißen Dancemoves her und wieso sieht das am Ende doch alles irgendwie aus wie ein Kult?)
1. Akt: „Heavydirtysoul“ und die Einlieferung nach DEMA
Doch fangen wir am Anfang an. 2017 kam das letzte Musikvideo der Blurryface-Ära, „Heavydirtysoul“, raus. Fast 1 Jahr nach Albumrelease fängt hier die visuelle Reise von Tyler nach DEMA an. DEMA, das ist die Gefängnisstadt in der fiktiven Welt rund um Clancy, wird von Bischöfen kontrolliert und steht als Symbol für all die mentalen Dämonen, die Menschen in ihrem Leben bekämpfen. Steht Tyler unter dem Einfluss von DEMA, sieht man die schwarze Farbe auf seinem Nacken und Händen – das, was bei dem Musikvideo zu Stressed Out schon für Verwirrung gesorgt hat, steht für seine Ängste und Depressionen, die Kontrolle übernehmen.
Und damit endete die Aktivität der Band abrupt für über ein Jahr. Kein Wort, kein Tweet, kein nichts. Dann kamen eine ganze Reihe voller kryptischer Hinweise, Karten von DEMA und Briefe von Clancy, der versucht, aus DEMA auszubrechen. Hinweise auf die neue Ära und das neue Album: Trench.
2. Akt: „Jumpsuit“ und der erste (gescheiterte) Fluchtversuch
Nach diesen kryptischen Brotkrumen, die die Fanbase gierig und verwirrt aufgesogen hat, kam im Juli 2018 (endlich) neue Musik. Drei Songs mit drei Musikvideos, die in die Story von Trench einleiten und die Geschichte da aufpicken, wo sie Tyler und Josh mit „Heavydirtysoul“ verlassen haben.
Das Auto aus Heavydirtysoul steht nun – leer – mitten auf der Straße und brennt. Josh ist weg. Und Tyler rennt. Er stolpert über Steine und wird von Nico, dem Bischof, verfolgt (yes, there are memes). Oben auf den Bergen sind die Banditos, halten beschützend nach Tyler Ausschau und werfen Blumenpedale auf ihn hinab. Alles im klaren Farbcode gelb, die Farbe die die rot gekleideten Bischöfe, nicht sehen können (weil gelb = Hoffnung). Sobald die gelben Blumen auf Tyler fallen, verschwindet übrigens auch die schwarze Farbe auf seinen Nacken, und der lähmende Einfluss von DEMA fällt. It’s shit like that I love. Doch die Flucht soll nicht erfolgreich bleiben: Tyler wird von Nico zurück nach DEMA geschleift. Die gelbe Blume auf seiner Brust aber bleibt.
3. Akt: „Nico And The Niners“ und der zweite (erfolgreiche) Fluchtversuch
In „Nico And The Niners“ gewinnt man zum ersten Mal visuelle Eindrücke der Stadt und ihrer (leicht bedrohlichen) Rituale. Tyler ist in DEMA, packt seine Sachen und bereitet sich auf eine neue Flucht vor. Gelbe Farbschimmer hier und da deuten an, was sich dann nicht als Flucht, sondern viel mehr als Rettung herausstellt: Die Banditos, angeführt von Josh, stehlen sich durch unterirdische Tunnel in die Stadt und übergeben Tyler neue Kleidung. Die Jacke mit gelbem Tape (und damit für die Bischöfe nicht aufspürbar) ermöglicht ihnen den Weg zurück.
(Service-Tipp: 2:32 für den berühmt-berüchtigten und einfach nur cuten Twenty One Pilots Handshake.)
Auch wenn sie sie nicht verhindern konnten, bekommen die Bischöfe und anderen Gefangenen der Stadt von der Flucht mit. Doch alles, was sie finden, sind zwei überbliebende Jacken und Josh‘s Drumkit.
4. Akt: „Levitate“ und der Twist
Die dreiteilige Videoreihe endet mit „Levitate“. Die Banditos kommen aus dem unterirdischen Tunnel betreten Trench, das Tal zwischen DEMA und was immer auf der anderen Seite liegt. Ein Tal der Hoffnung, wenn man will. Die Energie hat sich komplett gewandelt (passend zum Song) und es passieren viele Dinge auf einmal: Tyler bekommt die Haare rasiert, Josh drummt oder trägt Fackeln, und eine ganze Truppe Banditos macht sich für den Kampf ready, das brennende Auto hinter ihnen. Und dann: Tyler, der erneut von einem Bischof am Kragen weggezerrt wird.
So schnell das Video angefangen hat, so schnell es endet auch schon wieder. Alles, was bleibt, sind offene Fragen.
5. Akt: „Saturday“ – SAI ist Propaganda
Dann: das neue Album. „Scaled And Icy“ erschien im Mai 2021 und kam natürlich auch nicht ohne kryptische Eastereggs und wilde Fantheorien aus. Erzählt hab ich das aber alles schon mal hier in der Review zur ersten Auskopplung „Shy Away“ und hier im kompletten Kontext des Albums.
Das Wichtigste: „Scaled And Icy“ ist ein Anagramm von „Clancy is dead“ und ein Album, was DEMA anpreist und verklärt, doch unter versteckten Hinweisen als Propaganda bezeichnet wird. Im Livestream, welches sie als Release-Konzert virtuell aus einer riesengroßen Fabrikhalle mit über 6 Sets übertragen haben, wurde klar: das ist alles inszeniert. (Es wäre jetzt sehr cool, hätte ich es damals geschafft, darüber zu schreiben, dann hätte ich jetzt was zu verlinken. Aber guckt euch das hier als Verströstung an).
Das Musikvideo, welches aber den hier fünften Akt der fortgeführten Geschichte kennzeichnet, ist das Musikvideo zu Saturday. Hier hab ich zum Glück schon was zu geschrieben, also go read away.
Aus den neu aufgetauchten Briefen von Clancy wissen wir, dass er von den Bischöfen gezwungen wurde, Werke zu erschaffen, die DEMA als guten Ort darstellen – volle Analogie also mit der „Scaled And Icy is propaganda“ Theorie. Höhepunkt sollte eine Show-Performance auf dem Schiff sein. Diese Performance wird im Video jedoch gewaltig unterbrochen: Trash, der Drache, der auch unter Wasser schwimmen kann (oder können das alle Drachen?), rammt wie besessen das Schiff. Mit seinen gelb schimmernden Augen bringt er es zu Kentern und lässt Tyler, Josh, und die anderen treibend im Meer zurück.
6. Akt: „The Outside“ und die Insel, auf dem ein Kult entstand
“It seemed like pure chance to wash up where we did. As I followed him across the small, frigid island a few things happened: Feeling came back to my hands and feet, we were given dry clothes, and I began to realize – chance had nothing to do with this place.”
Schon bisschen full-circle Moment gerade oder? Hier auch für die visuelle Fortsetzung und Vollständigkeit in Reihenfolge halber – das Musikvideo zu “The Outside”:
Macht es jetzt mehr Sinn? Oder wirft es noch mehr Fragen auf? Auf einer Skala von 1-10, wie sehr geschockt seid ihr allein nur von den ersten 20 Sekunden? Egal, wie oft ich es mir angucke, es kriegt mich jedes Mal. Doch zu den Fragen im ersten Teil:
Warum bringen die Bischöfe einen aus ihrer eigenen Reihe um?
Der Bischof, der in der ersten Szene stirbt, ist Keons. Er ist einer der neun Bischofs, und trägt die Verantwortung über Clancy. Clancy hat, wie wir wissen, versucht aus DEMA zu fliehen. Eine Vermutung wäre, dass Keons für seinen Fehler und seine Nachlässigkeit bestraft wird.
Ist Keons Trash?
Absolut keine Ahnung, was da passiert. Dass sie aber eine Verbindung zueinander haben scheint deutlich, wenn sie zur scheinbar gleichen Zeit mit einem gelben Schimmer in den Augen sterben.
Wer ist dieses süße Wesen?
Das ist Ned. Ned ist mittlerweile ein kleines Band Maskottchen geworden. In einem Interview hat Tyler erklärt, dass er für seine Kreativität steht. Er taucht sowohl lyrisch als auch in den ein oder anderen Musikvideo immer wieder auf – in dem Musikvideo zu “The Outside” jedoch zum ersten Mal nicht alleine. Doch er scheint derjenige zu sein, der Tyler und Josh auf den richtigen Weg über die Insel leitet. Er ist auch derjenige, der Tyler die Hörner zur Durchführung des Rituals gibt, das versuchen soll, Keons zu retten.
Was für ein Kult-Ritual führt Tyler in der Bucht, umrandet von Neds, durch?
Auch hier: keine Ahnung. Tyler scheint durch die Choreographie von wirklich sehr, sehr, sehr smoothen Moves am Ende des Songs Besitz von Keons Körper zu nehmen und sich so gegen die ihn umzingelnden und bewaffneten Bischöfe zu wehren. Er reißt die schimmernden Gitterstäbe um, durchbricht so das Ritual und vertreibt die anderen Bischöfe. Dann erlischt das Licht in seinen Augen, Keons fällt zu Boden und ich bin genauso schlau wie vorher. Dann hab ich das noch im Internet gefunden und war noch ein wenig besorgter.
Wer sind die beiden anderen am Ende?
Am Ende des Musikvideos sieht man Tyler und Josh mit ihrer brennenden Fackel auf der Insel ins Weite zu blicken. Am Horizont ist DEMA zu sehen, in blauen Flammen. Dann zoomt die Kamera raus und man sieht mehrere gelbe Fackel-Paare auf entfernten Inseln in der Weite. Es scheint, als hätten noch mehr die Flucht geschafft – darunter auch die beiden, die am Ende von „Nico And The Niners“ die gelben Jacken aufgehoben haben. Die Story geht hier also noch weiter.
All die offenen Fragen zur Seite, ist “The Outside” ein beeindruckendes Musikvideo voller visueller Parallelen zu den vorherigen Musikvideos. Es erzählt die Geschichte auf eine so fesselnde Art und Weise weiter, dass ich dieses Fangirl-Kribbeln wirklich völlig fühle. Es sollte auch videografisch irgendwo ausgestellt werden, finde ich. Allein wie die Shots und Abschnitte sich an die musikalischen Brüche des Songs halten – hier ist an jedes Detail gedacht worden. Die Weltband, die das Lollapalooza headlined und die Alt-Press auf unzähligen Covern ziert, hat so viel Kreativität in sich ruhen, wie man es für wenige Major-Themen, die sich da in den Charts rumtummeln, behaupten kann.
Fotocredit: Ashley Osborne