Sam Vance-Law hat nach seinem 2018 erschienen Debütalbum „Homotopia“ endlich neue Musik veröffentlicht. Seine letzte Woche erschienene „NDW“-EP ist, wie der Titel es bereits erahnen lässt, eine Hommage an die Neue Deutsche Welle. Wie die vier deutschen Songs, denen der in Berlin lebende Kanadier nun seinen Stempel verpasst hat, klingen, und warum Drangsal 30 Jahre zu spät geboren wurde, lest ihr jetzt in der Review von Jule.
Ich habe etwas festgestellt: Ich glaube ich wurde geboren, um Fan zu sein. Ich habe offenbar absurd viel Liebe übrig und verteile diese auch super gerne. Aber es gibt einen Menschen, der bekommt ganz besonders viel davon ab. Einen Menschen, den ich seit Jahren als einen meiner absoluten Lieblingskünstler benenne. Dessen Debütalbum für mich immer noch eines der besten und wichtigsten Werke unserer Zeit ist. Und der einer der nettesten und süßesten Menschen ist, die ich je getroffen habe: Sam Vance-Law. Seitdem ich für Musikmagazine schreibe (und jetzt für mein eigenes, wie geil?), warte ich sehnsüchtig darauf, mich endlich auch mal auf dieser Ebene mit ihm beschäftigen zu können. Lange hat es gedauert but now my time has finally come.
Als man mir gezwitschert hat, dass eine EP auf dem Weg ist, blieb mein Fangirlherz original einfach so für 2 Minuten stehen. Schließlich habe ich nicht vor Ende 2021 mit neuer Musik gerechnet. Und jetzt gibt es direkt vier Songs? Auf Deutsch? Der Mann, der für mich einfach Geige und mehrstimmige englische Songs bedeutet, covert Neue Deutsche Welle-Songs? Gimme a second. Begründen tut Sam die Entstehung der EP damit, dass er einfach mal wieder etwas machen wollte, das Spaß macht. Und Deutsch ist. Das klingt völlig fair, oder?
Eisbären müssen nie weinen
Der erste Song der EP ist der von der Schweizer Band Grauzone im Jahr 1981 veröffentlichte Song „Eisbär“. Für mich ein völlig logischer und konsequenter Opener, denn dieses Lied gehört seit Jahren zur festen Setlist eines jeden Sam Vance-Law-Konzerts. Er hat live wirklich immer unfassbar viel Spaß gemacht. Glücklicherweise konnten Sam und seine Band diesen Song noch vor der Pandemie live aufnehmen – denn als ich ihn nun auf der EP höre, kommt bei mir direkt Konzertstimmung auf. Ein bisschen fehlt mir jedoch der Anblick von Gitarrist Aidan, der beim finalen Gitarrenpart des Songs auf der Bühne jedes Mal um sein Leben gespielt und dabei so gut wie immer seine Saiten zerstört hat. Hach, das waren noch Zeiten…
Was bei „Eisbär“ auf jeden Fall auffällt: Sam Vance-Law versucht nicht krampfhaft, etwas Neues aus dem Song zu machen. Vielmehr ehrt er ihn so wie er ist und verleiht ihm einfach nur seine persönliche Note. Toller Song, der toll umgesetzt wurde und in mir noch tollere Erinnerungen weckt.
Von heute an will ich nicht älter werden
Der zweite Song, „Ich will nicht älter werden“, der Hannoveraner Punkband Bärchen und die Milchbubis war mir bisher ehrlicherweise unbekannt. Bei dem Cover dieses ebenfalls 30-jährigen Songs handelt es sich um ein Feature mit Drangsal. Sam Vance-Law und er sind nicht nur durch dasselbe Label miteinander verbunden, sondern auch befreundet. Beim Bielefelder Ausgehen mit Freunden-Festival 2019 standen sie sogar einmal gemeinsam für einen Drangsal-Song auf der Bühne. Seit diesem Tag hegte ich den tiefen Wunsch nach einem Feature. Well, here we are. Ich habe mir natürlich auch das originale „Ich will nicht älter werden“ angehört und stelle erneut fest: Das Cover klingt zwar frischer, aber auch hier wurde nicht versucht, den Song in seinen Strukturen zu verändern. Es lässt sich aber auch feststellen, dass Drangsal eindeutig 30 Jahre zu spät geboren worden ist. Wenn seine Stimme nicht wirklich zu 120 % für solche Lieder gemacht ist, weiß ich auch nicht.
„Dann läuft die Nase, ich hab ein Raucherbein
Die Zähne fallen aus, ich krieg‘n Heiligenschein“
Dass die beiden den Song im Wechselgesang arrangiert haben, gibt ihm auf jeden Fall einen funny Twist. Macht mir beim Mitsingen einfach auch mega Spaß, wenn ich für die Parts von Drangsal hoch und für die von Sam wieder tiefer singe – man sollte mir dabei nur nicht unbedingt zuhören müssen…
Ich sprüh‘s an jede Wand…
… „Neue Männer braucht das Land“. So heißt der dritte Track der „NDW“-EP. Im Original von Ina Deter ziemlich angriffslustig und rotzig gesungen, bekommt er in der Version von Sam Vance-Law irgendwie etwas Liebevolles eingehaucht. Das liegt vielleicht weniger daran, dass das gewollt ist, als dass seine Stimme naturgegeben einfach sehr warm und raumfüllend klingt. Und das kann man hier ganz besonders gut hören. An dieser Stelle auch einfach mal ein shout out an seine Band, die den Instrumentals lediglich die Vollmundigkeit gegeben haben, die sie 1982 noch nicht hatten.
Die im Refrain jodelartig gesungenen Worte „jede“ und „Wand“ hat Sam an sich und seine Tonlage angepasst. Ich habe selbst mal versucht, diesen Wechsel von Brust- auf Kopfstimme nachzumachen. No way, keine Ahnung wie Ina Deter das hinbekommen hat, ohne dass es völlig krumm und schief klingt.
Wie dem auch sei, ich liebe den Song und ich liebe seine Umsetzung. Es lässt sich richtig gut dazu durch die Wohnung tanzen, das sag ich euch.
Dann hebt er ab und, naja ihr wisst schon…
Es gibt wahrscheinlich kaum einen Song der Neue Deutsche Welle, der so häufig und bis heute immer noch, auch international, regelmäßig gecovert oder melodisch genutzt wird. Die Rede ist von „Major Tom“, dem Gassenhauer von Peter Schilling aus dem Jahr 1982. Ich bin mir ziemlich sicher, dass jede und jeder im deutschsprachigen Raum diesen Song kennt und auf Kommando den Refrain mitsingen kann. Es liegt also auf der Hand, dass er auch auf der „NDW“-EP von Sam Vance-Law einen wohlverdienten Platz bekommt.
„Im Kontrollzentrum da, wird man panisch
Der Kurs der Kapsel, der stimmt ja gar nicht“
Ziemlich geil ist hier die stimmliche Umsetzung. Die Strophen werden zweistimmig gesungen und bekommen so die perfekte Harmonie. Im Refrain wurde Sam’s Stimme dann mehrfach übereinandergelegt, was im Zusammenspiel mit der für ihn eher untypischen Tonlage einen richtig guten Effekt ergibt. Gerade weil der Song so bekannt ist, ist der Grat zwischen „gefällt mir nicht, weil klingt nicht wie das Original“ und „das hat ja gar nichts mit dem Original zu tun“ sehr schmal. Ich persönlich finde die Umsetzung sehr gelungen, weil es eben nah am Ursprung ist, ohne eine billige Kopie sein zu wollen. Besonders die Synthies liebe ich hier sehr.
Fazit
Was ich den ganzen Artikel über vermieden habe zu sagen, aber einfach das Allerallerbeste an dieser Platte ist: Sam‘s Akzent! Ich kann mir nicht helfen, aber das ist wirklich einfach nur unfassbar cute. Als ich ihn das erste Mal die Worte „Kontrollzentrum“, „Erdanziehungskraft“ und „Karstadt“ habe singen hören, musste ich wirklich lachen. Ein bisschen so wie man lachen muss, wenn ein kleines Kind auf den Hintern fällt– man will nicht, aber man kann es sich auch nicht verkneifen. Weil es für mich im ersten Moment auch wirklich ein bisschen absurd klang. Ist ja schon ein großer Schritt zwischen „Homotopia“ und der „NDW“-EP. Inzwischen hat mein Hirn diesen musikalischen Ausbruch in die 80er aber ganz wunderbar verarbeitet und liebt jede Sekunde davon.
Wie schon erwähnt ist „Neue Männer braucht das Land“ mein absoluter Favorit der EP. Was natürlich zu einem Großteil an Sam Vance-Law selbst liegt, aber auch daran, dass das einfach ein richtig guter Song ist. Ich finde es toll, dass er die Songs so honoriert wie sie sind und ihnen lediglich seine persönliche Note verliehen hat. Wobei man das eigentlich allen vier Songs lassen muss. Außerdem sind die Sounds nicht immer bis zum Äußersten perfektioniert, wodurch sie einen tollen Live-Charakter bekommen. Ich bin mit der EP auf jeden Fall nochmal mehr Fan von ihm geworden (falls das geht).
Die Vorfeude darauf, dass Sam seine NDW-Songs irgendwann auch live zum Besten geben kann, ist riesig. Ich kann die Leute schon „vöööööllig losgelööööst“ gröhlen hören. Das wird ein Fest. Aber bis dahin wird einfach fleißig die EP gehört:
Fotocredit: Jannik Morton Schneider