Willkommen zu meinem Jahresrückblick! 2023, was warst du bloß für ein wirrer Rush. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, wirklich zu wenig Zeit zu haben und das nicht immer nur zu sagen. Ich glaube, deswegen erinnere ich mich auch so schlecht an alles, was länger als das die letzte Mahlzeit her ist. Doch fangen wir von vorne an.
Auch wenn Filtern hart ist und das ja auch immer heißt, sich mit sich selbst und seiner Vergangenheit zu beschäftigen (schwierig), möchte ich euch hier ein paar musikalische Highlights präsentieren. Musik hat dieses Jahr vor allem eins: connected. Und das war sehr schön. Ein paar Geschichten:
Im Schein der Schreibtischlampen
Februar. Besuch in der Heimat. Kurz vor Karneval. Im Großraumbüro einer Kölner Grafikagentur hängen bunte Girlanden über den Bildschirmen. Auf der Theke in der Teeküche steht ein Fass Kölsch. Die Ruhe vor dem Sturm, bevor die kollektive Alkoholfahne eine Woche lang durch die Straßen der Domstadt weht. Tagsüber arbeitet in diesem Büro ein alter Schulfreund von mir. Jetzt ist es Nacht und er sitzt mit einer roten Nase neben mir auf dem Bürostuhl. Arschkalt draußen. Kurz ausruhen. Gleich weiter in die Stadt.
Dort, im Halbdunkeln, an diesem Ort, der nachts so seltsam unnütz erscheint, zeigt er mir „Let’s Start Here.“ Das neue Album von Lil Yachty. Und mir wird schmerzhaft bewusst, wie lange wir das hier nicht mehr gemacht haben. Nebeneinandersitzen und uns gegenseitig die neuesten musikalischen Entdeckungen zeigen. „Album des Jahres!!“, überschlägt sich meine Stimme schon nach dem zweiten Song. Im Februar! Und ja, so etwas habe ich wirklich noch nie gehört. Das Album klingt, als hätte der Cloud-Rapper Lil Yachty eine alte Pink Floyd-Vinyl zu einem Hubba-Bubba zerkaut. „Let’s Start Here.“ – ein gutes Motto für den Rest Jahres.
Symptome der Besessenheit
Juni. Im ICE nach Hamburg. Ich sitze im Gang. Im Board-Bistro ist die Kaffeemaschine kaputt. Alle Gerüche der Menschheit sind in diesem Zug wie in einem Vakuum-Beutel konserviert und mischen sich ausgerechnet in meiner Nase. Am Tag zuvor war ich zum ersten Mal seit langer Zeit mal wieder hingefallen, mein Auge war blau und alle Gliedmaßen an den Kontaktpunkten aufgeschürft. Aus dieser Hölle holt mich nichts mehr raus. Dachte ich. Da spawnt das neue Album „WEICH“ des Berliner Rappers Peat in meinen Algorithmus. Es wird das erste von vielen Malen sein, dass ich beim Song „IRGENDWANN WIRD ALLES“ Play drücke und „AM ENDE“ noch so vieles nicht verstanden habe. Und nicht nur mir wird es so gehen. Ich schicke den Link meiner Schwester und ahne nicht, welch schwerwiegenden Folgen das haben wird.
Als meine Schwester und ich uns Monate später wieder sehen, gesteht sie mir, dass sie seitdem NICHTS mehr anderes als dieses Album gehört habe. Und irgendwie hat sie sich verändert. Gesteigerte Selbstironie, unbarmherzige Offenheit und immer wieder diese verstörenden Geschichten aus der Jugend – typische Peat-Symptomatik. Langsam mache ich mir Sorgen. Ich empfehle ihr, einen Spezialisten aufzusuchen.
Selbstverständlich habe ich sie dorthin auch begleitet. So etwas steht man am besten gemeinsam durch. Tja, und da waren wir dann – auf der WEICH-Tour von Peat im Oktober. Geheilt sind wir bis heute nicht.
Ü im Fichtenhain
September. Mitten im Weinberg. Seit meinem Umzug vor einem Jahr, vermisse ich die Mosel und die lieben Menschen von dort schmerzlich. Zum rituellen Wiedersehen treffe ich meine Trierer Freunde ab jetzt jedes Jahr hier, auf dem ObenAir-Festival. Die Luft und die Erde sind noch feucht vom Regenschauer der letzten Nacht. Die Sonne hat sich mittlerweile wieder durch die Wolkendecke gepflügt, bereit die Bühnen des süßesten Festivals Deutschlands schon einmal vorzuwärmen.
Auf einer kleinen Bühne mitten im Fichtenwald spielt Pink Lint am frühen Abend. Einige von euch erinnern sich vielleicht – 2021 hatte ich über sein Album „Ü“ hier eine Review geschrieben. Überall im Wald stehen Liegestühle, in den Nadelbäumen glühen die Lichterketten. Diese Songs dort live zu hören und zu sehen, wie meine besten Freunde an seinen Lippen hängen, werde ich so schnell nicht vergessen. Genau wie den letzten Act des Festivals: Es brennt. Statt auf der Main-Stage spielen Sören und Magnus auf ihrer eigenen Bühne, direkt vorm Weinstand. Gerade mal so groß, dass Magnus mit den Drums oben drauf passt. Und Sören wirbelt mit dem Mikrofon davor, im Publikum. Schon nach dem ersten Song weiß ich nicht mehr, wie ich heiße, wie alt ich bin und wo ich wohne. „Hast du sowas schon mal gehört???“, frage ich kreischend wirklich JEDE PERSON im Mosh-Pit um mich herum. „NEIN!!!“, ist ausnahmslos die Antwort.
Meine Perle
Ja, und dann war da natürlich noch meine Zeit in Hamburg im Herbst. Ich glaube, ich war noch nie auf so vielen Konzerten in so kurzer Zeit, wie in den zwei Monaten in der Hansestadt – nicht zuletzt auch wegen des Reeperbahn-Festivals. Ganz besonders im Kopf sind mir die Shows von Clipping, Uche Yara, Another Sky und joe unknown geblieben. Mittlerweile wieder in Würzburg angekommen, wirkt die Zeit in Hamburg wie ein Fiebertraum – hier holt mich der Alltag ein, hier hab‘ ich keine Zeit mehr für gar nichts.
In diesem Jahr gab es für mich viel Veränderung und verändert hat sich auch die Art, wie ich Musik höre. Es klingt schlimm, aber meist skippe ich Playlists oder Alben nur noch durch. Hängen bleibe ich mit wenigen Ausnahmen nur dort, wo mich Musik komplett überfährt und mir den letzten Nerv raubt. Ich höre nur noch Musik, die mich abfuckt, Musik, die ich nicht verstehe. Ob das gut oder schlecht ist, muss ich im nächsten Jahr herausfinden. Gefunden habe ich dadurch dieses Jahr jedenfalls zwei sehr spezielle Alben, die ich euch noch ans Herz lege: Zum einen wäre da „Vidrio“ von Titanic. Das mexikanische Jazz-Duo um Cellistin Mabe Fratti hat mit diesem experimentellen Album bei mir einen Volltreffer gelandet – unbedingt anhören. Und zum anderen wäre da Enji. Die mongolische Sängerin mischt auf ihrem zweiten Album „Ulaan“ Volksmusik aus ihrer Heimat mit Jazz – obwohl ich kein Wort verstehe, bin ich damit emotional komplett überfordert.
Darf ich euch das Tschüss anbieten?
Im letzten Jahresrückblick habe ich mir gewünscht, wieder mehr auf Konzerte zu gehen. Es waren jetzt zum Schluss so viele, dass ich gar nicht nachzählen kann. Ich habe mir auch gewünscht, dass Frank Ocean ein neues Album rausbringt. Ich hätte ihm vielleicht noch eine Erinnerungs-E-Mail schreiben sollen, denn – das hat nicht geklappt. Mein dritter Wunsch war, wieder mehr über Musik zu schreiben. Eigentlich war ich mir sicher, dass zwei der drei Wünsche in Erfüllung gehen werden. Aber das Schreiben für untoldency kam dieses Jahr so kurz, wie nie zuvor. Daher ist es für mich jetzt Zeit, vorerst den Anker zu werfen und mich aus der Redaktion zu verabschieden, bis ich wieder Zeit habe. Ich möchte euch allen danken, fürs Lesen und das liebe Feedback. Dafür, dass ihr dadurch meine beruflichen Pläne maßgeblich umgestaltet habt und ich jetzt endlich das mache, was mir gefällt. Jule, Anna, euch besonders großen Dank für euer Vertrauen und eure viele Arbeit, die ihr in uns und untoldency investiert habt. Gäbe es euch nicht, wäre ich jetzt ganz woanders.
Wir lesen uns. Macht’s gut!