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feinperlig. die musik-literarische Kolumne: 30 Jahre Britpop: “Sorry for being a party pooper“!

Ende August haben wir euch eine neue Rubrik vorgestellt! Sie heißt “feinperlig.” und ist eine musikalisch-literarische Kolumne von Johannes Martin, die sich an seine seit 2022 laufende gleichnamige Interviewreihe anschließt. In dieser spricht er mit Künstler*innen, Verleger*innen, Booker*innen und anderen Persönlichkeiten in der deutschen Kulturlandschaft. Durch die jetzt schriftliche Version dieser Reihe bekommt seine Kolumne und seine Einordnungen der musikalischen Kulturlandschaft endlich auch ihren Platz. In seiner ersten Kolumne war er im nischigen Blues-Rock der 80er unterwegs, heute beschäftigt er sich mit Britpop und seine Entwicklung über die Jahre. Von Oasis bis zu The Last Dinner Party – in den letzten 30 Jahren ist viel passiert.

Dieser Artikel widmet sich dem Phänomen Britpop, das vor genau 30 Jahren von Großbritannien aus ganz Europa eroberte – und auch heute wieder neue und vor allem weibliche musikalische Impulse hervorbringt.

30 Jahre Britpop: “Sorry for being a party pooper“!

Britpop existiert, seit es Beatmusik, Pophypes und die schöne neue Welt gibt. Geregelte Arbeitszeiten, Abtreibungsgesetz, Manchester-Raves, Ecstasy und für manche ein Eigenheim. Für viele von uns gab es jedoch nur eines: Musik. Mit 17 Jahren war sie ein absoluter Lichtblick in meinem pubertären Ringen mit mir selbst. Britpop-Bands jener Tage hörten wir nicht nur, wir folgten ihnen.

Ein wolkenverhangener Maitag im Jahr 1998. Ich war mit meinem Freund, meinem Buddy, auf dem Weg von London nach Wigan. Sechs Stunden im Reisebus, um zu unserem Traumziel zu gelangen: Haigh Hall, ein Hügel in der englischen Grafschaft Lancashire, der für uns an diesem Tag den Rock’n’Roll-Olymp bedeutete. Unsere Lieblingsband The Verve spielte in ihrer Heimatstadt ein spektakuläres Konzert vor 33.000 Besucher*innen. Das Britpop-Spektakel schlechthin. Eröffnet von den Überraschungsgästen Beck und John Martyn, folgten The Verve nach langer Wartezeit und tobten 110 Minuten über die Bühne. Allen voran ihr Sänger Richard Ashcroft. Wir standen gefühlt in Reihe 56, mussten dringend auf die Toilette – und waren doch beseelt. Mit dem Hit „Bitter Sweet Symphony“ und dem Album „Urban Hymns“ galten sie 1998 als die Sensation des britischen Pop.

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Das Ganze ist 26 Jahre her. Reunions und Jubiläen huldigen der untergegangenen Ära des britischen Pop. Heute arbeite ich selbst in der Konzertbranche. In den 1990er-Jahren vibrierten London, Manchester, Brighton und andere Städte in England musikalisch, wie einst zuvor in den Swinging Sixties. Richard Ashcroft ist auch heute noch als Solokünstler unterwegs, doch seine Songs und Alben treffen meinen Geschmack nicht mehr. Frisches von der Insel kommt auffälligerweise eher von den Frauen und FLINTAs. Zu nennen sind da beispielsweise The Last Dinner Party, Dream Wife, Savages und English Teacher.

Bei der Recherche nach meinen 90er-Britpop-Heldinnen von Elastica, Sleeper, Echobelly und Lush stieß ich auf ein Interview mit der Lush-Sängerin Miki Berenyi und ihre Autobiografie „Fingers Crossed“ (2022). Schon bei der Überschrift „The claim that Britpop celebrated sassy women in bands was a veneer“ wird klar, dass sie mit der Ära abrechnet. Dazu später mehr.

Die Anfänge des Britpop: Was war passiert?

Cool Britannia, Buy British, Lads’ mags, Tony Blair und New Labour – Britpop war das kulturelle und musikalische Phänomen, das Mitte der 1990er Jahre Großbritannien und die Welt beeinflusste. Es war eine Rückbesinnung auf britische Popmusik und -kultur, nachdem der Mainstream von amerikanischen Grunge-Bands dominiert wurde. Langhaarige Slackertypen und Grunge-Sounds – das galt als unbritisch in den Augen vieler junger Brit*innen. Also entfachten sie das Feuer des britischen Pop neu.

An der Spitze dieser Bewegung standen die Gallagher-Brüder mit Oasis und die Jungs von Blur. Oasis’ Album „Definitely Maybe“ erschien am 29. August 1994 und war geprägt von kraftvollen Gitarrenriffs, melodischen Hooks und einer Energie, die an die frühen Beatles, The Kinks oder The Jam um Paul Weller erinnerte. Es wurde stilbildend für den aufkommenden Britpop-Hype. Blur, die andere große Band des Genres, veröffentlichte im April 1994 ihr drittes Album „Parklife“, das ebenfalls sehr erfolgreich war. Diese beiden Bands repräsentierten unterschiedliche Aspekte des Hypes: Oasis waren die pöbelnde Working Class aus Manchester und Blur die intellektuellen Künstler-Lads aus London.

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Britpop betonte britische Traditionen und Stile mehr, als dass es sich streng an ein bestimmtes Musikgenre hielt. Zahlreiche Acts schwammen auf dieser Welle oder wurden von der Industrie dementsprechend kategorisiert: The Verve, Pulp, Elastica, Suede, Supergrass, Catatonia, Ash, Kula Shaker, Stereophonics und die Super Furry Animals. Selbst seichtere Popbands wie Travis, Keane und Embrace erhielten das Britpop-Label. Die Blaupause für den klassischen Britpop-Song schrieben meiner Meinung nach jedoch weder Paul Weller noch Paul McCartney, sondern The La’s mit „There She Goes“.

Die andere Seite des Britpop
Miki Berenyi, Lush, 30 Jahre Britpop, feinperlig

Die Bandmitglieder von Elastica und Lush mussten gegen den Sexismus der Branche ankämpfen. Miki Berenyi, Lush‘s Frontfrau, schrieb in ihrer Autobiografie über die Schwierigkeiten, die sie und andere Frauen in der männerdominierten Britpop-Szene erlebten. Sie sprach von herabwürdigenden Kommentaren, sexistischen Rezensionen und unangenehmen Begegnungen mit männlichen Kollegen. So berichtet sie, dass Alex von Blur ihr auf einer Party in den Hintern biss und Liam Gallagher sie lediglich als „fuckable“ einstufte. Fotoshootings, wie für „Dazed and Confused“, stellten nicht die Musik in den Vordergrund, sondern die Tatsache, dass die Frontfrauen beinahe nackt waren.

Berenyi kritisiert, dass Feminismus zu einem leeren „Girl Power“-Slogan verkommen sei, der eher darauf abzielte, seine „mädchenhaften“ besten Freundinnen zu feiern und seine Titten zu zeigen, anstatt Frauen wirklich als Gleichberechtigte zu behandeln. „Sorry for being a party pooper“, schreibt sie in ihrem Buch, „aber ich hasse Britpop und bin froh, dass dieses Scheißfest am Ende implodiert ist.“

Hat sich etwas geändert?

Wie sieht es heute aus? Es gibt nach wie vor strukturelle Probleme in der Branche. Eine Studie von 2021 zeigte, dass der Anteil von Frauen auf Festivalbühnen gerade mal bei 16 Prozent liegt. Doch es gibt auch positive Entwicklungen. Heute gibt es  mehr Female- und FLINTA-Bands, die mit neuen Sounds und Haltungen die Szene aufmischen.

Aktuelle Acts wie Wet Leg und The Big Moon liefern neue Impulse. Dream Wife aus Brighton machen wütenden Punk-Pop und arbeiten auch auf Tour ausschließlich mit weiblichem, queerem und nichtbinärem Personal zusammen. The Last Dinner Party erobern mit opulentem Barockpop die Bühnen Europas. Nilifür Yania überliefert mit ihren sphärischen und cleveren Arrangements den Nimbus des Britpop. Und English Teacher aus Leeds bringen trotz oder gerade wegen ihrer Post-Punk-Anleihen genau jene Selbstironie, Tiefe und Britishness mit, die ich früher schon so liebte.

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Britpop heute

Das 30-jährige Jubiläum des Britpop wird auf allen Kanälen ausgiebig gefeiert. Oasis veröffentlichten „Definitely Maybe“ neu und kündigten zudem großspurig Stadion-Gigs an – begleitet von kontroversen Diskussionen über explodierende Ticketpreise. Doch wer es gegenwärtiger mag, sollte sich die Alben der jüngeren Bands anhören und Konzerte von Acts wie The Last Dinner Party, English Teacher und Nilüfer Yanya besuchen. Es lebe der britische Pop!

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Quellen:

https://www.theguardian.com/music/2022/sep/23/miki-berenyi-the-claim-that-britpop-celebrated-sassy-women-in-bands-was-a-veneer

Studie zur Geschlechtervielfalt in der Musikwirtschaft und Musiknutzung (2021): https://malisastiftung.org/wp-content/uploads/Keychange_2021_PK-Version_final_230921.pdf

Fingers Crossed: w Music Saved Me from Success: Rough Trade Book of the Year – Miki Berenyi: https://www.amazon.de/Fingers-Crossed-Music-Saved-Success/dp/1788705556

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