Wir freuen uns wahnsinnig, euch heute eine neue Rubrik vorzustellen! Sie heißt „feinperlig.“ und ist eine musikalisch-literarische Kolumne von Johannes Martin, die sich an seine seit 2022 laufende gleichnamige Interviewreihe anschließt. In dieser spricht er mit Künstler*innen, Verleger*innen, Booker*innen und anderen Persönlichkeiten in der deutschen Kulturlandschaft. In der jetzt schriftlichen Version dieser Reihe bekommt seine Kolumne und seine Einordnungen der musikalischen Kulturlandschaft endlich auch ihren Platz. Das erste Thema ist ein wenig im nischigen Blues-Rock der 80er unterwegs, doch dafür umso interessanter. Und für die Nische sind wir hier oder? Doch überlassen wir das Wort nun unserem Kolumnisten.
Heute geht es um den Rhythm’n’Blues-Musiker Mitch Ryder, der die USA verlässt, um sich in der ehemaligen DDR neu zu erfinden. Die Band Engerling aus Berlin begleitet ihn. Mit überraschendem Ausgang, einem Elvis-Moment – und der einzig wahren Rock-Botschaft.
Naked but not dead – Mitch Ryder
Die Geschichte beginnt mit einem Wendepunkt. Keinem Anfang im eigentlichen Sinne. Wir befinden uns in Las Vegas, Nevada, am 19. Juli 1968, um 17:43 Uhr Ortszeit. Es ist ein schwül-warmer Sommertag, durchdrungen vom Zirpen der Heuschrecken und den feuchten Winden die von Westen hereinströmen. Eine Gila-Krustenechse sucht in Eile Schutz hinter gezüchteten Kreosotbüschen. William S. Levise Jr. alias Mitch Ryder, 23 Jahre, lehnt in einem glitzernden Gold Lamé Suit an der Wand des Brooklyn Bowl, einem Konzert- und Bowlingschuppen am Rande der Fremont Street. Einen fast identischen Gold-Anzug trug Elvis Presley auf dem Cover des 50,000,000 Elvis Fans-Albums. Seiner ist durchnässt vom Schweiß, denn die Sonne brennt erbarmungslos. Der Detroiter ist an diesem Tag bereits unzählige Meilen gereist. Die Nachmittagsshow war ein Desaster. Elvis hat auch ihn soeben für immer verlassen, davon ist Mitch Ryder überzeugt.
Es ist nicht einmal 6 Uhr und er hat schon einen sitzen. Er trank vorhin zwei oder drei Whiskey der Marke Journeyman, „one of the coolest distilleries in Michigan“, und fürchtet, so kann es nicht weitergehen. Es ist drei Jahre her, dass er mit seinen Musikern, der Band The Detroit Wheels, die Single „Jenny Take A Ride!“ einspielte. Der Song, eine Uptempo Beat- und Soul-Nummer, sollte ihn über Nacht berühmt machen. Nach der Veröffentlichung des Albums „Take A Ride“ folgte prompt eine Konzertreise quer durch die Staaten. Und auch in Europa verzeichnet die Gruppe Chartplatzierungen. Doch Zeiten ändern sich. Detroiter Funk- und Soul-Geplänkel, Blues und Rock’n’Roll haben ihre besten Jahre hinter sich. Mit einer Bigband im Rücken scheitert der Musiker grandios. Die Zukunft führt ihn geradewegs in drittklassige Clubs, wo die Gagen niedriger sind. Mitch fühlt sich von der Musikindustrie verspottet. Tage und Nächte verbringen er und seine Bandkollegen im Rausch von Weed, Aufputschmitteln und Alkohol.
Um 17:57 Uhr trifft es den Sänger wie ein Schlag. Mit den Worten „Ich mach, was ich will“ verabschiedet sich Mitch Ryder in eine tiefe Ohnmacht. Der Rock’n’Roll kapituliert im verrottenden Elvis-Anzug – und ist bereit abzudanken. Punk, New Wave, Reggae und synthetische Sounds sollen an seine Stelle treten. Doch, der Rock’n’Roll in seiner Transzendenz würde niemals tot sein, das wusste Mitch auch in der dunkelsten Stunde seines Rock’n’Roller-Daseins. Er fühlt sich nackt, aber er ist am Leben. Elvis hin oder her.
Beyond the Wall
Cut – der Film ist gerissen. Stimm- und Drogenprobleme, menschliche Zerwürfnisse und lange Touren werfen Mitch Ryder zurück. Er wird einige Zeit in einer Detroiter Automanufaktur am Fließband arbeiten, bevor er 1978 mit neuformierter Band zur Musik zurückfindet. Seiner Enttäuschung gegenüber der Musikindustrie verleiht er Ausdruck indem er sein eigenes Plattenlabel Seed and Steems gründet. Wenig später wird Ryder nach Europa fliegen, vorerst nach Deutschland. Im Folgejahr brilliert er in gewisser Weise mehrfach bei der WDR-Rockpalast-Nacht in der Essener Grugahalle, wo er sich, ganz offensichtlich betrunken, erst mit dem Moderator Alan Bangs anlegt, später mit dem gesamten Publikum. Dennoch spielen die Band und er im Anschluss ein beeindruckendes Konzert.
Mitch übersteht auch die 1980er-Jahre, nimmt unter anderem fünf Studioalben beim Hamburger Label Line Records auf und hält sich über Wasser. Das Album „Never Kick A Sleeping Dog“ wird ein Überraschungs-Hit. Den Drogen schwört er ab, auch wenn es ihm nicht immer leicht fällt. Das hat er vor allem seiner Frau Megan zu verdanken, die nicht weniger als Struktur in sein Leben bringt. Als in Berlin im Jahr 1989 die Mauer fällt, in Russland die Perestroika ihren Lauf nimmt und sich in ganz Osteuropa die Zeitenwende ankündigt, ist Mitch Ryder so weit weg von seinem alten Leben, wie er es sich immer erhofft hatte.
Da hilft kein Jammern – Engerling Blues
Die Deutsche Demokratische Republik betritt Mitch erstmals im Januar 1988. In jenem nass-kalten Winter in Ost-Berlin gibt er im Rahmen von „Tage der Jugend im Palast“ ein Konzert im Palast der Republik. Dort, wo heute das Humboldt Forum steht. Im Publikum sitzt der Tourneeleiter und spätere Musikpromoter Gert Leiser, den Mitch wenig später in Dessau wiedertreffen wird. Und ihre Wege kreuzen sich erneut.
Nach dem Mauerfall arrangiert Gert Leiser ein Treffen mit dem amerikanischen Gesangs-Derwisch und Engerling, der Band, die er zum Zeitpunkt managt und auf Konzertreisen begleitet. Engerling, gegründet im Jahr 1975 in Ost-Berlin, spielen Boogie- und Blues-Songs, Rock’n’Roll mit deutschsprachigen Texten sowie englischsprachige Coversongs. Sie sind trotz oder wegen ihrer Unangepasstheit angesagt. Die Hintergründe des Treffens schildert Gert Leiser so: „Im Jahr 1994 suchte Mitch Ryder eine Tourband, da es immer anstrengender und kostspieliger wurde, Musiker aus den Staaten einzufliegen. Zumeist kannten sie die Songs überhaupt nicht und mussten sich das Material innerhalb von zwei Tagen aneignen. Der Gruppe Engerling ging es gut. Wir haben bereits vor der Wende Auftritte in Hamburg gespielt. Da wir keine klassische DDR-Staatskapelle waren und immer gegen Gage spielten, war es für uns einfacher als für andere Bands damals, Konzerte zu spielen. Dennoch, die Chance mit Mitch zu spielen ließen wir uns nicht entgehen.“
Rite of Passage – Mitch Ryder & Engerling
Ausgerechnet im berühmten Hansa-Studio in der Köthener Straße in Berlin treffen sich der Sänger und die Mitglieder von Engerling zum gemeinsamen Dinner. In dem ehrwürdigen Studiokomplex arbeiteten bereits Ikonen wie Iggy Pop, Trio, Depeche Mode oder David Bowie an ihren Tonaufnahmen. Mitch trifft dort auf die zurückhaltenden Männer Peter Lucht, Wolfram Boddie Bodag, Manne Pokrandt und Heiner Witte. Das Ensemble ist eine formidable Rhythmusgruppe und spielt den Rhythm’n’Blues auf hohem internationalen Niveau. Den Ryder-Song „Ain‘t Nobody White Can Sing The Blues“ spielen Engerling auf beinahe jedem ihrer Konzerte. Sie schlagen ein – und gehen erst einmal statt auf die Bühne ins Studio.
Sie nehmen das Album “Rite Of Passage“ auf. Noch im selben Jahr touren Mitch Ryder & Engerling vier Wochen durch Deutschland, Österreich und die Schweiz. Betäubungsmittel sind kein Thema mehr, Alkohol schon. Ein geheimnisvoller Drink wird Mitch allabendlich vor den Auftritten gereicht. Stark genug, um auf der Bühne 120 Minuten Fullpower zu geben. Engerling und Mitch verstehen sich gut. Ihren Sound würzen sie mit einer Note Hardrock. Manne Pokrandt, Bassist der Band, wird in den kommenden Jahren die Produktion und das Mastering einiger gemeinsamer Alben anleiten. Für die Arbeit mit dem Sänger findet Manne im Gespräch ein prägnantes Beispiel: „Mitch weiß im Studio, was er will – und er will den Rhythm’n’Blues auf seine ganz eigene Art arrangieren. Dabei konnte ich ihm behilflich sein. Als wir das Stück “Heaven Takes You Back“ aufnahmen, machte ich ihm den Vorschlag eine Duduk einzusetzen. „A Duduk? What’s that?“, fragte Mitch. „Eine armenische Flöte“, antwortete ich. Er ließ sich darauf ein und ich brachte den Dudukspieler Sören Birke ins Studio. Das Ergebnis war, wir schufen eines der herzergreifendsten und ungewöhnlichsten Stücke in Mitchs Karriere.“ Bis heute blicken die Musiker auf acht gemeinsame Studioalben zurück, von denen die allermeisten in Mannes Studio 1058 entstanden sind.
Einmal im Jahr, zumeist in den Wintermonaten, fliegt Mitch nach Deutschland, um mit Engerling zu touren. Mit den Jahren werden sie besser, musikalisch und menschlich. Auf insgesamt 22 Tourneen wird Integrität beiderseits großgeschrieben. Lediglich die Corona-Pandemie unterbricht sie in ihrem transatlantischen Austausch. Gert Leiser berichtet von aufregenden, manchmal anstrengenden Momenten unterwegs – sowie irrwitzigen Begegnungen: „Es ist schon ein paar Jahre her, da gaben wir ein Konzert im Club Harmonie in Bonn, einem Traditionsladen. Ich betreute wie immer den Merch-Stand. Da kam ein älteres Paar zu mir, beglückwünschte mich zum gelungenen Auftritt, kaufte CD`s und fragte mich dann etwas ungläubig, wann denn der „echte“ Mitch Ryder gestorben sei. Wie jetzt? Wir konnten die Situation schnell aufklären.“ Gert Leiser lacht. Er überzeugte das Paar schließlich von Ryders Lebendigkeit.
The Roof is on Fire
Am Abend des 18. Februars 2024 spielen Mitch Ryder & Engerling ein sehr gelungenes Konzert im Berliner Kesselhaus in der Kulturbrauerei, im Rahmen ihrer 30th Anniversary-Tour. Während der zweistündigen Show riecht es im Saal nach Lederjacke, Bier und Schweiß. Etwa 600 Fans haben sich in der Halle versammelt. Es herrscht eine angenehm-ausgelassene Atmosphäre, das Publikum scheint sich untereinander zu kennen. Die Alten gingen schon früher auf die Engerling-Konzerte und bringen nun ihre Kinder mit. Neue Fans sind hinzugekommen. Mit seinen deutschen Fans pflegt Mitch ein besonders inniges Verhältnis, beteuert er stets. Nach einer Operation an der Wirbelsäule absolviert er die Konzertabende größtenteils im Sitzen. Im Kesselhaus jedoch steht Mitch. Er hat sich vorgenommen, von nun an besser auf sich acht zu geben.
Wenige Wochen vor dem Auftritt in Berlin erscheint das Live-Doppelalbum „The Roof Is On Fire“, das es auf Platz drei der amerikanischen Billboard-Blues-Charts schafft. „Ob ich nun mit Anfängern oder erfahrenen Musikern zusammenkomme, (…), im Mittelpunkt steht nicht das Alter, sondern der gemeinsame Spaß an der Musik. Die meisten Musiker, die ihr auf diesem Album hört, kenne ich schon sehr lange.“, sagt Mitch im Interview mit einem Online-Musikmagazin. Zu diesem Zeitpunkt ahnen die Mitglieder von Engerling noch nicht, dass die Geburtstagstour auch ihre letzte werden soll. Mitch Ryder trifft sich bereits für Verhandlungsgespräche mit Thomas Ruf, über dessen Vertrieb das Livealbum läuft. Am 10. März ist dann Schluss. Die Band Engerling trifft das Aus unverhofft.
Gert Leiser bedauert den harten Schnitt: „Erst kürzlich sprach ich mit Mitch über die Zukunft. Er gab mir zu verstehen, dass es für ihn nur zwei Gründe gäbe, die Zusammenarbeit zu beenden, und das sind Krankheit und Tod. Er gab an, mit mir die nächste Tour planen zu wollen. Aber dann kam alles anders. Nach dem Top-Ten-Album wurden neue Begehrlichkeiten wach.“ Die öffentliche Stellungnahme folgt auf dem Fuß: Der Vokalist verlässt seine deutschen Kollegen und wechselt zu Ruf Records! Thomas Ruf, Labelinhaber, Agent, Promoter und Bluesenthusiast, machte Mitch Ryder ein Angebot, das er nicht ausschlagen wird.
An Veranstalter, Kollegen und Freunde verschickt Leiser eine Mail: „Mitch Ryder hat sich nach 30-jähriger erfolgreicher Zusammenarbeit mit den Musikern von Engerling und mit mir als Tourpromoter entschieden, neue Wege zu gehen, mit anderen Musikern und einem anderen Tourpromoter (Ruf Records), und mit Blick auf den europäischen und den US-Markt. Im Klartext: Es wird keine gemeinsame Tour von Mitch Ryder mit Engerling und mir mehr geben. Wir bedauern diese Entscheidung!“
Wenn der Dachstuhl brennt, nützt weder beten noch den Fußboden zu scheuern, so heißt es sprichwörtlich.
Rock’n’Roll never dies – Epilog
Mitch Ryder wird mit beinahe 80 Jahren musikalisch neu beginnen. Er soll ein Album in Memphis, Tennessee, aufnehmen, der Heimat des Blues, des Rock’n’Roll und von Elvis Presley. Seinen US-amerikanischen Landsleuten will er noch einmal zeigen, wo der Rhythm’n‘Blues-Hammer hängt. Begleitet vom legendären Gitarristen Bernard Allison und dem Produzenten Jim Gaines. Eine Tournee ist in Planung.
Engerling wiederum feiern im kommenden Jahr ihr 50-jähriges Jubiläum mit großem Finale im Berliner Kesselhaus – ohne Mitch. Es geht immer weiter. Und so beende ich den Text mit einer erneuten Wende. Einem Meilenstein. Nicht etwa einem Schlusspunkt. Denn der Rock’n’Roll stirbt nicht, solange DU ihn spielst, hörst und feierst.
Quellen:
Zitat musireview
Beitrag Generalanzeiger/ Datum: Mai 2024
Interview mit Gert Leiser/ Datum: 20.05.2024
Interview mit Manne Pokrandt/ Datum: 29.05.2024
„Bye bye Lübben City“ (Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf)