The 1975 liefern einfach immer wieder ab. Was anderes kann ich zu ihrem neuen Album einleitend gar nicht sagen. Jeder, der ein bisschen was auf Indie gibt, müsste eigentlich schon seit Jahren ein riesengroßer Fan der Engländer sein. Mit ihrem vierten musikalischen Werk „Notes Of A Conditional Form“ oder kurz „NOAFC“ haben sie erneut bewiesen, wieso. Lest hier die ausführliche Review zu einem sehr langem, aber gutem Album.
The 1975 feat. Greta Thunberg
Jedes The 1975 Album fing bis jetzt ähnlich an. Verschiedene Versionen des ersten self-titled Tracks eröffneten die drei Vorgänger Alben und auch NOACF hat sich in die Reihe dieser self-titled Intros eingereiht. Doch dieser soll vielleicht der beeindruckendste sein. Matty Healy traf sich hierfür mit der jungen Aktivistin Greta Thunberg, die das gesamte fünfminütige Intro einsprach. Kein Politik-Talk an dieser Stelle von mir, sondern wirklich und ganz ernsthaft einfach nur die Aufforderung eines 17-jährigen Mädchens an die Welt und jeden Einzelnen von uns, die Art und Weise, wie wir leben und uns auf dieser Erde verhalten, stark zu überdenken: „So, we can no longer save the world by playing by the rules because the rules have to be changed. Everything needs to change, and it has to start today. So, everyone out there, it is now time for civil disobedience. It is time to rebel”.
“It is time to rebel”
Die letzte Zeile des Monologes nehmen sich Matty und der Rest der Band ans Herz, um genau so die die Reise ihres 22 Songs langen Albums zu beginnen. People ist astreiner Garagen-Punk. Für meine Indie-verwöhnten Ohren ist es leider nichts, aber ich habe mir von mehreren Leuten sagen lassen, wie unglaublich gut dieser Song sein soll –wenn man Punk mag. Die Lead Single ist laut, schnell, aggressiv und aufweckend. Sie packt Gretas Worte in einen Song, der sich an alle Generationen richtet, endlich mit der zerstörerischen Lebensweise aufzuhören, die wir gerade alle verfolgen. People ist durchtränkt mit wütenden Gitarrenriffs, schreienden Lyrics und einer ganzen Mentalität eines rebellischen Schritts in die richtige Richtung. Es ist ein ganzes Statement.
„Oh boy, don’t cry“
In Frail State Of Mind beschreibt Matty seine eigene zerbrechliche Mentalität, die sich vor allem mit Social Anxiety ausdrückt, für diese er sich mehrfach in dem Song entschuldigt. Er eröffnet mit einem stimmungsvollen Glockenspiel, welches sich schnell zu einem ausgefallenen Beat entwickelt. Der Song klingt leicht verzerrt am Anfang und wird dann stark dominiert von der Melodie der Strophe. Die dritte Single Auskopplung ist eine ganze Ansammlung von verschiedenen musikalischen Schichten, die sich übereinanderlegen und trotzdemSinn ergeben. Das Glockenspiel vom Anfang ist immer wieder zu hören, kurz bevor neue Elemente wieder dazukommen. Es ist der erste Song auf dem Album, bei dem mir auffällt, wie komplex die Produktionen von The 1975 eigentlich sind – und wie herausfordernd es sein muss, diese Komplexität in ein stimmiges Liedzu verwandeln. Mein imaginärer Hut wird an dieser Stelle gezogen.
The Birthday Party ist mein Lieblingssong des gesamten Albums. Das Ambiente, welches The 1975 hier erschaffen, ist wie das Tor zu einer Traumwelt. Bonjo, Piano und Mattys sanfte Stimme lassen einen rundum gut fühlen. Auch wenn sich musikalisch nicht viel verändert, ist es vielleicht genau das, was es so gut macht. Mattys Stimme ist das einzige, welches einen durch den Song führt. The Birthday Party ist ruhig, ohne traurig zu sein und entspannend, ohne einzuschläfern. An dieser Stelle sehr zu empfehlen ist das Musikvideo, welches ein kurioses Meisterstück ist und den gesamten Vibe des Songs perfekt einfängt.
„Emas eht leef t’nod I, degnahc -s’ti ekil sleef emiT“
Was auf den ersten Blick, völlig zu Recht, wie absoluter Schwachsinn aussieht, ist die dritte Zeile des siebten Songs Yeah I Know. Rückwärts geschrieben ergibt sich: „Time feels like it’s changed, I don’t feel the same“. Ob das einen tieferen Sinn hat? Garantiert. In Yeah I Know experimentieren The 1975 das erste Mal auf dem Album mit mehr elektronischen Vibes. Und es funktioniert. Mattys Stimme ist mit Autotune verzerrt und tiefer als sonst. Diese Tiefe wird mit dem sich durchziehenden Bass aufgegriffen, der den sich immer wiederholenden Beat bestimmt. Es ist simple und ohne aufwendig viele Instrumente oder Lyrics. Auch wenn es am Anfang leicht entfremdend wirkt, so beginnt man doch, je länger man einfach nur zuhört, sich langsam in genau jenem Beat zu verlieren, der anfangs doch so anders wirkte.
Ich summe immer noch das catchige “Hit that shit, go hit that shit” von Yeah I Know vor mir her, als die Musik auf einmal wieder eine 180 Grad Drehung macht. Weg von elektronischen Loops hin zu einem typischen The 1975 Love-Track. Then Because She Goes ist nicht lang, aber lässt mich auch schon in den zwei Minuten Länge in leichte 90er Melancholie verfallen.Voller Gitarrenund verträumter Leadstimme ist es bestimmt ein kleines Goldstück auf dem Album, was noch an ältere Alben erinnert.
Jesus Christ 2005 God Bless America
Okay, zweiter Favourite Track. Mit solchen Liedern können mich Matty und The 1975 wirklich zuschütten, weil ich jedes Mal absolut schwach für werde.Jesus Christ 2005 God Bless America ist eine musikalische Umarmung, so einfach und doch so pur. Mattys unveränderte ruhige Stimme, die nur mit einer Akustikgitarre und leichten Symphonien begleitet wird. Die Gitarre hört sich so unverfälscht an, als würde er es direkt hier vor meinen Augen spielen. Matty und seine Duett-Partnerin Phoebe Bridgers singen von verzweifelter, unerwiderter Liebe für „a boy i know“ und „the girl next door“. And I’m here for that.
„I’ve been in love with her for ages”
Mit einer gesunden Dosis Sarkasmus in den Strophen haben The 1975 mit Roadkill einen weiteres kleines Indie-Meisterstück vorgezaubert. Es klingt, wie der Titel vermuten lässt, stark nach einem Roadtrip-Song durch Texas mit offenem Fenster und hereinstrahlender Sonne. Der Refrain bringt die Melancholie und die Strophe die gute Laune. Eigentlich müsste ich mich jetzt in mein Auto setzen und einfach so herumfahren, nur um den Song seine gerechtfertigte Szenerie zu bieten.
Direkt danach geht es weiter mit Me & You Together Song, der vor allem allen alten The 1975 Fans gefallen sollte. Die Gitarrenmelodie erinnert stark an die Zeiten von Chocolate und Sex, und fügt sich so perfekt an die gute Laune des vorherigen Songs an, nur mit weniger Melancholie. Der Song hat keine ruhige Stelle und man muss sich auf so viele Gitarren schon ein bisschen einlassen, aber macht man das, hat der Song Potential auf den nächsten Lieblingstrack. Liebeskummer verpackt in gute Laune Songs hatte schon immer größtes Hitpotential.
I Think There’s Something You Should Know bildet wieder einen kleinen Break in dem doch jetzt schon langen Album. Eigentlich bin ich absolut kein Fan von allem über 15 Lieder, einfach weil es immer die Tendenz hat, sich gleich anzuhören. NOACF bildet jedoch eine riesengroße Ausnahme und ich bin froh, meine Skepsis überwunden zu haben und trotz 22 Songs genauer reinzuhören. Mittlerweile auf Track 12, greift I Think There’s Something You Should Know wieder den experiementellen Vibe mit elektronischen Samples und Beats auf. Mir gefällt es tatsächlich auch besser als Yeah I Know, einfach weil es ein bisschen ruhiger und melodischer ist. The 1975 beweisen erneut, wie wandelbar sie sind, ohne ihren eigenen Sound zu verlieren. Denn auch wenn der Touch Indie, den man gewohnt ist, fehlt, ist es doch eindeutig The 1975.
Nothing Revealed / Everything Denied
Ungefähr in der Mitte des Albums fällt mir jetzt auf, dass sich erstens wenige so viel durchlesen wie ich gerade geschrieben habe, und dass ich mich sehr überstürzt auf meine Lieblingslieder festgelegt habe. Nothing Revealed / Everything Denied mischt da definitiv auch mit. Der Anfang ist sehr ruhig, dann höre ich einen eindrucksvollen Chor und bin schon beeindruckt, als sich kurz danach das gesamte Lied auf einmal dreht. Matty rappt. Mit viel Nutzung von Autotune, aber hell yes. Lyrisch behandelt Matty die Diskrepanz zwischen seinen Lyrics und realem Leben, aber um ehrlich zu sein, kann ich mich da beim ersten Mal hören gar nicht so drauf konzentrieren. Bei solchen Liedern ist die Länge des Albums absolut gerechtfertigt. The 1975 zeigen mal wieder, dass sie absolute Musik-Genies sind. Und absolut unterschätzt.
Im Endspurt durch die letzten 9 Songs
Um den Lesefluss dieses Artikels realistisch zu halten, versuch ich jetzt nicht ganz so detailiert auf den Rest des Albums einzugehen. Bis jetzt ist NOACF aber auf jeden Fall ein weiteres Meisterstück der Band aus Manchester. Auch Tonight (I Wish I Was Your Body) und If You’re Too Shy (Let Me Know) reihen sich in die Songs ein, die das beweisen. Der eine ein bisschen jammiger, der andere schon vor Album Release ein absoluter Konzertliebling. Beide behandeln das Thema der sexuellen Intimität, auf ästhetische Art und Weise. Letzterer featured laut der Band die besten Gitarrenriffs, das beste Sax-Solo und die beste Hommage an die 80er Jahre Teenie-Film Kultur. Großartig widersprechen kann ich da nicht. Auch What Should I Say, wenn auch offensichtlich kein Indie, sondern gut gebaute Loops mit catchigen Samples, hinterlässt einen guten, bleibenden Eindruck. Musikalisch ist NOACF genauso gut wie vielschichtig.
Playing On My Mind erinnert mich sehr stark an She Lays Down von dem 2016 Album I like it when you sleep, for yet you are so unaware of it (The 1975 können Albumtitel). Sehr ruhig, mit nur einzelnd angespielten Tönen auf einer Akustikgitarre kreiert Matty wieder einmal eine träumerische Atmosphäre, der ich sofort verfalle.
Wir nähern uns dem Ende und es wird noch einmalsehr persönlich. Don’t Worry ist eingesungen von Matty selbst und seinem Vater, der den Song geschrieben hat, als Matty zwei Jahre alt war. Und auch Guys, das den Abschluss des Albums bildet, ist ein emotionales Tribut, diesmal an seine Freunde. Matty zeigt auf, dass es viel zu wenig Liebeslieder für platonische Freundschaften gibt und schließt das Album mit den Worten ab „You guys are the best thing that ever happened to me.“ Und damit bin ich raus, nach einer viel zu langen Review zu einem viel zu gutem Album.