Am 27.12.2019 veröffentlichte Kaltenkirchen das Debüt-Album “Im Namen der Liebe“. In 11 Songs werden wir mitgenommen auf eine Reise in die 80er, voll von Liebeskummer und Verlusten, am Ende aber irgendwie auch Zuversicht. Die komplette Albumreview von Jule lest ihr hier.
Ich war 2019 wohl auf kein Debüt mehr gespannt als auf das von Kaltenkirchen, formally known as Philip Maria Stoeckenius. Vollständigerweise möchte ich hier aber auch Niklas Pichler, der sowohl Ein-Mann-Liveband als auch Produzent ist, erwähnen. Denn die beiden sind gemeinsam Kaltenkirchen.
Mit “Liebe auf dem Klavier” starten wir die Platte. Der Song handelt von einer leidenschaftlichen Romanze, die zu einer tiefen Verbindung verschmelzen zu scheint. Bis man merkt, dass die andere Person es irgendwie doch nicht so ernst meint. Kaltenkirchen singt mit solch einer Dramatik, dass ich das Gefühl habe, dass er diese Geschichte nicht nacherzählt, sondern genau in diesem Moment erlebt. Mit all der Liebe und all dem Schmerz. Das nicht weniger dramatische Instrumental da sein Übriges.
Weiter geht’s mit “Die Lichter“. Und da passiert es: Ich frage mich ernsthaft, ob Kaltenkirchen uns eigentlich alle verschaukeln will. Ich bin mir während “Die Lichter” sicher, dass er eigentlich bereits 50 Jahre alt ist und nun die Hits, die er als Jugendlicher 1986 geschrieben hat, unters Volk bringt. So authentisch 80er klingt der Sound für mich – und als im Jahr 1992 Geborene weiß ich genau, wovon ich spreche. Zweiter Song des Albums und ich bin überaus positiv überrascht. So kann es weitergehen.
Vorsorglich schon einmal tief durchatmen…
“Du und Ich (1990)” ist wahrscheinlich der Song, vor dem ich am meisten Respekt hatte. Via Instagram hat Kaltenkirchen erzählt, dass es um seine Eltern geht, die 1990 die Fehlgeburt des dritten Geschwisterkindes zu verkraften hatten. Schluck. Schwere Kost. Und da Kaltenkirchen mir seine Songs bisher mit 300 % Leidenschaft vorgesungen hat, befürchte ich hier gleich einen mental breakdown.
“Du trägst die Frucht unserer Zweisamkeit in deinem Bauch.
Die Engel nehmen sie dir weg.
Du nimmst es wahr wie im Rausch.
Du versucht es dir zu erklären, warum das Kind in dir starb.
Ich nehme dich bei der Hand, bis dort wo noch niemand war.“
Ich lasse diese Zeilen einfach mal so stehen. Höchst aufgewühlt bin ich, dieses Lied ist eine emotionale Achterbahnfahrt. Ich hoffe wirklich, dass der nächste Song mich wieder bisschen runterholt.
Track 4 des Albums ist (zum Glück) der Gassenhauer “Harry Haller“, den viele von uns wohl besonders nach dem Video mit Mia Morgan und Drangsal lange im Ohr hatten. Ihr wisst schon, „zwei Seelen kämpfen in meiner Brust“. Gute Texte brauchen nicht immer eigenen Hirnschmalz. Manchmal ist es auch schön, die Lyrik eines anderen zu verwenden. Die von Goethe zum Beispiel. Den hat Kaltenkirchen hier nämlich zitiert. “Harry Haller” ist wahrscheinlich sein Signature Song, der (hoffentlich) vielen Leuten Bock auf seine Musik gemacht hat. Ich jedenfalls singe jetzt für die nächsten Tage wieder leise „zweiiiisaaaam ist besser als einsam“ vor mich hin.
Kaltenkirchen, we’re going down…
Der nächDer nächste Song heißt Phase Null und ist wohl der seelische Tiefpunkt dieses Albums. Es geht um jemanden, der offensichtlich gerade nicht so ‘ne geile Zeit hat. Ob Philip hier von sich selbst erzählt? Er hat schon öfter erzählt, dass Kaltenkirchen das Ventil für seine eben kalte und depressive Seite ist. Trotz des schweren Themas ist der Synthie-Sound in Phase Null (wie bei allen Songs bisher) sehr melodisch und energiegeladen. Ich habe im Moment eine ziemlich gute Zeit. Vielleicht konzentriert sich mein Kopf deshalb auch eher auf den Beat, als auf den Text, der aber auch wieder unschlagbar ist:
“Und die Zynik lässt dich immer tiefer fallen
und vernebelt den Verstand.
Denn du hast dich im Verharren und im Trinken
in der Nichtigkeit verrannt.“
Ob Philip hier von sich selbst erzählt? Er hat schon öfter erzählt, dass Kaltenkirchen das Ventil für seine eben kalte und depressive Seite ist. Wenn das so sein sollte, dann hoffe ich jetzt einfach mal, dass aus Phase Null inzwischen Phase Hundert geworden ist.
In “Die Wolke” werden sich wahrscheinlich sehr viele Leute wiedererkennen (und es nicht zugeben). Wir, die wir in einer Gesellschaft leben, in der uns unser Look auf Social Media oft wichtiger ist, als das Wohlergehen unseres Gegenübers in der realen Welt. Kaltenkirchen kritisiert hier lautstark unsere gesellschaftliche Entwicklung. Diese Kritik wird eingehüllt vom einem heftigen 80er-Pop-Sound, der super innovativ klingt. Ich möchte dieses Lied einfach ganz doll umarmen!
Ich bin voll und ganz begeistert
Im ersten Moment hat mich “Gib mir Deine Hand” geschockt. Kaltenkirchen haucht mir hier im feinsten ASMR-Style ins Ohr. Gänsehaut. Aber nicht die gute, sondern die komische. Ich gewöhne mich aber zum Glück schnell daran. Der Song baut sich auf zu einem melodischen Meisterwerk. Textlich wieder ziemlich dunkel, aber für mich ist „Gib mir Deine Hand und lass dich von mir ziehen“ einfach einer der aufmunternsten Sätze, die man einem anderen sagen kann. Der prägnanten E-Gitarren-Riff in diesem Song gefällt mir auch richtig gut. In Kombination mit der Chipmunk-Stimme (das nennt man seit 2005 nicht mehr so, oder?) ist das ein Song, der etwas vereint, was meine Ohren so noch nie gehört haben.
Von Song zu Song werde ich betrübter, weil ich mich langsam dem Ende nähere. Und auch “Testosteron” enttäuscht mich nicht. Die Synthies in diesem Song gefallen mir bisher am besten von allen. Hier fällt mir zum wiederholten Male auf, dass ich die Wortwahl in den Texten von Kaltenkirchen wirklich unfassbar bewundere. Ich fühle die Hin- und Hergerissenheit mit jeder Sekunde des Songs mehr.
In “Wir sind das Volk” geht es um den oftmals schwierigen Grat von Toleranz zu Akzeptanz. Das Gefühl, alles umkrempeln und ändern zu wollen, aber nicht bei sich selbst anzufangen. Textlich ist dieses Lied einfach ein Hinhörer für alle New-Wave-Lover. Undd auch hier triggert er mich wieder mit den Emotionen in seine Stimme – ich möchte einfach mit ihm auf den Tisch hauen.
Kommen wir zum Titelsong der Platte, der an vorletzter Position des Albums gelandet ist: “Im Namen der Liebe“. Viele von uns kennen das. Man liebt, obwohl man weiß, dass es keine Zukunft haben wird. Trennen wir uns aber dann? Nö, oftmals nicht. Anders hier: Es wird bemerkt, dass man nicht mehr so begehrt wird, wie es einmal war.
“Im Namen der Liebe verlasse ich dich.
Nicht weil ich das so möchte,
es ist die Pflicht die aus mir spricht.“
Auch bei diesem Song fällt mir wieder auf, wie sehr ich Freud und Leid in Kaltenkirchens Stimme hören kann. Er catcht mich damit wie kaum ein anderer.
Kommen wir zum letzten Song: “Demonstration”. Dieser ist ein reines Instrumental. Ich kenne mich in der elektronischen Musik nicht so gut aus, aber sind das Technobeats? Wie auch immer. Ich feier es irgendwie. Guter Song für mich, um nach dem emotionalen Auf und Ab wieder runterzukommen.
Fazit
Ich war super gespannt und hatte daher irgendwie aus Versehen auch ziemlich hohe Ansprüche. Ich mag Philip als Typen total gerne und meine zu wissen, was für ein kreativer und schlauer Kopf er ist. Und was soll ich sagen: Ich bin absolut hyped mit diesem Album. “Im Namen der Liebe” ist für mich eines der besten Debütalben ever. Ich möchte an dieser Stelle auch nochmal auf Niklas Pichler zurückkommen, der als Produzent unfassbar gut abgeliefert hat.
Alle Songs erzählen auf wunderschön lyrische Art und Weise die bittersüßen Aspekte der Liebe, des Lebens und des Seins. Ohne mich jedoch mit einem schlechten Gefühl in den Tag zu entlassen. Ganz im Gegenteil. Durch die dynamischen Beats und den vielen unterschiedlichen Synthie-Sounds verkauft Kaltenkirchen geschickt seine durchaus kritischen und kompromisslosen Texte. Irgendwie hat er etwas erschaffen, was (jedenfalls in meiner Bubble) bisher noch nicht dagewesen ist.
Und wer es bisher nicht getan hat und textsicher werden möchte, der kann sich hier das komplette Album anhören: