Endlich veröffentlicht die Londoner Band Goat Girl ihr heißersehntes Album “On All Fours”. Seit der Veröffentlichung der neuen Singles und der Ankündigung des Albums letztes Jahr war der Hype für mich jedenfalls perfekt.
Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, als ich das erste Mal mit der Musik von Goat Girl in Berührung kam. Es war einer dieser schmerzlich vermissten Nachmittage im Plattenladen im Jahre 2018. Je knapper das Geld wurde, desto genauer und länger hörte ich mir im Plattenladen auch die Alben an. Muss sich ja auch lohnen. Da kam es schon häufiger vor, dass drei oder vier Stunden ins Land zogen und meine Freunde einfach nur noch genervt und/oder schon mal vorgegangen waren. So muss es damals auch gewesen sein. Und das Debüt Album von Goat Girl zog ich ganz zum Schluss aus der Plattenkiste. Ich habe die Scheibe aufgelegt, die ersten anderthalb Minuten gehört und wahrscheinlich meine letzten 20€ des Monats meinem Plattendealer anvertraut.
Heavy Bedroom Pop
Nach shame mit ihrem grandiosen Album „Drunk Tank Pink“ ist Goat Girl jetzt die zweite aufstrebende Band aus South London, die dieses Jahr ein neues Album veröffentlicht. South London ist seit einigen Jahren schon die hippe Brutstätte von zukunftsorientierten und angenehm diversen Newcomer Bands, die alle irgendwie und irgendwann mal in der Kultlocation The Windmill, Brixton ihr Konzertdebüt gefeiert haben. Auch wenn der für South London typische Post-Punk-Sound auf dem neuen Album nicht mehr ganz so stark zu vernehmen ist, ist Goat Girl ein lebendiges und wichtiges Mitglied dieser Szene.
Die verzerrten Gitarren und Pogoparts des ersten Albums hat die vierköpfige Band bei „On All Fours“ gegen analoge Syntheziser und raffinierte Chorarrangements eingetauscht. Spotify würde die Songs wahrscheinlich als „Chamber Psych“ kategorisieren, was tatsächlich irgendwie auch wirklich gut passt. „Heavy Bedroom Pop“ gefällt mir aber noch besser.
Trotzdem ist Goat Girl keine Band, die es nötig hat in Genre Schubladen sortiert zu werden. Die vier selbstbewussten MusikerInnen zeigen auf „On All Fours“, dass sie sich längst ihr eigenes Genre geschaffen haben. Gleich das erste Stück „Pest from the West“ bezeugt den Wandel ihres Bandsounds, als nach einem ruhigen Gitarren Arrangement mit tollen, eingängigen Akkorden ein sogenannter „Arpeggiator“ das Klangbild aufmischt. Dieser rhythmische Syntheziser war zumindest im Debüt so noch nicht zu hören. Der Text des Openers handelt von gescheiterter bzw. fehlender Genderpolitik und die angestaute Wut darüber, die für die junge englische Generation steht, aber sicherlich in der ganzen Welt im Moment wie die Faust auf’s Auge passt.
“Words remain in the suits of today,
And I have no shame when i say step the fuck away
I’ll be glad that when it’s the end,
You’ll be caught and torn when there’s no law to fall in”
Auch was für Nerds
Nie zu konkret und mit einem gewissen ironischen Abstand scheint Goat Girl in ihrem neuen Album sowohl politische Themen, als auch persönliche Probleme wie z.B. Angststörungen zu verarbeiten. Generell zeichnet das Album eine gewisse melancholische Grundstimmung aus, die nicht zuletzt durch die warme und tiefe Stimme der Sängerin Lottie Cream zum Leben erweckt wird und irgendwie den Weltuntergang einläutet.
In einem anderen politischen Kontext steht der folgende Song „Badibab“, der die eigene Schuld an der zerstörerischen Kraft der Menschheit in Bezug auf den Klimawandel reflektiert. Die poppige Songstruktur passt auf absurde Art wirklich gut zu diesen düsteren Gedanken. Zum Ende hin gerät diese Struktur dann doch noch ins Wanken und formiert sich zu einem chaotischen Getöse. Eine gelungene Überleitung zum einzigen Instrumentalstück auf dem Album, „Jazz in the Supermarket“. Mit Jazz im eigentlichen Sinne hat dieser Song zwar vermeintlich nichts zu tun, er beweist aber eindrucksvoll, dass die vier MusikerInnen ein ausgeprägtes Gespür für ungewöhnliche Harmoniekonstruktionen haben. Das lässt sich auch in jedem weiteren Song auf „On All Fours“ erkennen und macht mich als Nerd sehr glücklich.
Dass es ebenfalls rhythmisch gut zur Sache geht, zeigt uns „Never Stays The Same“. Das Album lief bei mir die letzte Woche wirklich auf Heavy Rotation und bei diesem Song hab ich meine verstaubten Tanzbeine jedes Mal zum zappeln bringen können, sogar im Auto (bitte nicht nachmachen). Die Angst vor Veränderung und die Angst vor der Stille stehen hier textlich im Vordergrund und schlagen damit ein weiteres thematisches Kapitel des Albums auf. Hier zeigt sich eine weitere Parallele zum neuen shame Album, das dort einen ähnlichen thematischen Strang verfolgt und damit auf den für junge Bands schwierigen plötzlichen Stillstand der Pandemie hinweist.
Plot Twist
In dieses Raster passt auch „P.T.S. Tea“, der die psychische Krankheit „PTBS“ diffus und etwas undurchsichtig zu behandeln scheint und konträr dazu mit lockerer Synth-Pop Atmo und einer Ohrwurmmelodie um die Ecke kommt.
“PTSD from a hot cup of tea,
Chug chug chug along on the ferry,
Dumb man wouldn’t even look back at me”
Musikalisch etwas völlig neues wagen die vier MusikerInnen dann mit dem Song „Sad Cowboy“, der schon sehr früh vorab als Single erschien und mir persönlich richtig gut gefällt. Im Morricone-Western-Style galoppieren Gitarrenriff und Drumbeat durch meine Gehörgänge und reißen mich mit, obwohl ich überhaupt nicht auf Western stehe. Der Song wandelt sich durch zunehmende Präsenz von Synthezisern und Filterfahrten zu einem repetitiven Housetrack. Ein gelungener Plot Twist!
Zugegeben, nach Erscheinen der Single hätte ich mir auch mehr solcher Experimente auf dem Album gewünscht und vorstellen können. In dieser Form bleibt der Song auf „On All Fours“ aber unter sich.
Das rockigere „The Crack“ mit seinen psychedelischen Lyrics und dem surrealistischen Video spielt mutmaßlich auch wieder auf die egoistischen Verhaltensweisen unserer Gesellschaft an und zwingt zur Selbstreflektion – wenn auch für mich irgendwie nicht ganz so eindrucksvoll wie zuvor schon auf dem Album gehört. Deutlich interessanter wird es für meinen Geschmack mit dem Song „Closing In“. In diesem Song versprüht Goat Girl ihren vollen Charme. Das Songwriting und das Arrangement wirkt so luftig und leicht, regt zum Träumen an gehört für mich mit zu den besten Songs des Albums.
Tranquilize it
Ebenso der darauf folgende Song „Anxiety Feels“, der eine besonders gut ausgearbeitete Melodie und einen derbe lässigen Laid-Back Feel verbreitet, ist einer meiner Favs. Hier kommt das gekonnte Arrangement der Backingvocals gut zur Geltung, das sich ebenfalls auf dem ganzen Album als Alleinstellungsmerkmal von Goat Girl etabliert.
“Please don’t leave me alone,
Staring out the window
I know I should get out the house,
Make myself useful
(Na na na na na na)”
Das verträumte „Na Na Na“ ist der eigentliche Clue des Textes, der dadurch die unangenehmen Gedanken und Ängste zu übertönen versucht. Eingelullt in dieses weiche und irgendwie dumpfe Instrumental, bekomme ich wirklich das Gefühl, vollgedröhnt mit Tranquilizern in der hintersten Ecke meines Zimmers zu hocken. Da reiht sich auch passender Weise „They Bite On You“ mit ein. Träge und schwer schleppt sich der Song durch und Lottie Cream besingt Schlafprobleme und das angenagte Nervenkostüm.
Vorbildfunktion
Die Stücke „Egos“ und das darauffolgende „Where Do We Go From Here?“ lassen sich textlich als offensive Abwehr des Patriarchats und Anklage gegen die politischen Machthaber interpretieren, die schon auf dem Debüt Album eine prägende thematische Rolle gespielt haben. Hier knüpft das Album wieder an seinen Anfang an und beeindruckt mit sprachlicher Raffinesse.
“So put them in the middle to start with,
Push out all their egos they hide in,
It’s funny where the mind goes without it,
Now it’s a simple silence.”
Mit „A Men“ zieht Goat Girl ihren Schlussstrich und beendet mit den Worten „Bless God, he tries“. Sie lassen uns ein wachrüttelndes Album zurück, das sehr genau beobachtet und viele Missstände aufdeckt. Auch wenn viele der Themen absolut keine Neuigkeiten mehr sind und sicherlich einigen Menschen zum Halse raushängen, ist es umso wichtiger, sie immer und immer wieder anzusprechen. Gerade Songs mit feministischer und diverser Haltung machen Goat Girl zu einem absoluten Vorbild für eine hoffentlich wachsende neue Generation von weiblichen und transsexuellen MusikerInnen.
Fazit
„On All Fours“ lässt uns auf allen Vieren die Scherben unserer Taten und die der Generationen vor uns aufsammeln. Ein insgesamt wirklich eingängiges Album, das jeder Zeit zu überraschen weiß und mit jedem Hören besser wird.
Fotocredit: Holly Whitaker