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Ein Festival wie kein anderes – das Roskilde Festival 2023 in Dänemark

Kennt ihr das Roskilde Festival? Wir haben bisher immer nur mal wieder den Namen aufgeschnappt und die großen Headliner, die dort spielen, aber nie so richtig, was genau dahintersteckt. Dieses Jahr hatten wir dann die Ehre von den lieben Menschen von Factory92 eingeladen worden zu sein. Das hieß: vier Tage vollstes Festival-Feeling in Dänemark! Und weil wir nicht nur vom Line-Up wahnsinnig beeindruckt waren, sondern auch von der liebevollen und nachhaltigen Art, wie das Non-Profit (!) Festival sein gesamtes Konzept gestaltet, wollen wir euch hier einen Einblick in alles geben:


Willkommen in der fünft-größten Stadt Dänemarks

In der Vorstellung des Festivals haben wir euch schon mal einen detaillierten ersten Eindruck gegeben. Vor allem was die verschiedenen Säulen der Nachhaltigkeit betrifft passiert einiges in Roskilde (hier könnt ihr es nochmal nachlesen). Was sich für uns damals noch ein wenig abstrakt angehört hat, haben wir Ende Juni dann persönlich vor Ort gesehen. Wir können sagen: in Roskilde werden große und wichtige Schritte in die richtige Richtung gemacht!

Dabei ist (nahezu) nachhaltige Festivals zu veranstalten gar nicht mal so ein leichtes Unterfangen. Es ist noch schwieriger wenn das Festival nicht 1000 lieben und umsichtigen Menschen Platz bietet, sondern 100000. Das sind ganze zwei Nullen mehr. 100.000 Menschen wollen campen, wollen feiern, tanzen, trinken, und ihre freien Tage weg vom Alltag genießen. Es kommen tatsächlich so viele Menschen zusammen, dass Roskilde in der Woche die fünftgrößte Stadt Dänemarks wird. Lasst das mal kurz sacken und versucht euch vorzustellen, was das heißt. Als wir am Mittwochnachmittag bei der offiziellen Eröffnung dabei sein durften, haben wir gesehen, wie viele Menschen das dann wirklich sind. Wirklich viele! Nach nur einer Stunde war das Festivalgelände mit Müll bedeckt. Auch wenn durch Müllsammler*innen die Verschmutzung ein wenig eingegrenzt wurde, war es ein Problem, das in der Masse sehr schwer in den Griff zu bekommen ist. Wie das leider so ist in einer überfüllten (Festival-)Stadt…

Einlass beim Roskilde Festival 2023

Next stop: UTOPIA

Bevor wir in den musikalischen Teil einsteigen, ein paar Worte zur Struktur und Philosophie des Roskilde Festivals. Workshops, Lesungen, Kunstinstallationen und andere nicht-musikalische Beiträge bilden einen großen Teil des mehrtätigen Festivals. An den sogenannten „First Days“ spielen Newcomer*innen aus der skandinavischen Musikszene auf den kleineren Bühnen Gaia und Eos und die ersten Lesungen und Workshops finden statt. Der Fokus ist weg von Headlinern und ganz klar auf dem Nachwuchs. Und das nicht dieses Jahr nicht nur auf der musikalischen Ebene:

Das Festival wählt jedes Jahr ein spezifisches Thema, unter das es sich jährlich inhaltlich ausrichtet. 2023 lautete das Thema „Utopia“. Es ging darum, den Blick der zweiten Festival-Edition post-Corona auf die Zukunft zu richten. Genauer, auf die Hoffnung, die in der Zukunft liegt. Was für unsere jetztige Generation gar nicht so einfach ist oder? Mit Anfang/Mitte 20 sind wir durch zwei Jahre Lockdown und Pandemie in einer Phase, die zentral in unserer sozialen Entwicklung ist. Wir leben in Zeiten, in denen die Klimadebatte akut ist wie nie und Kriege das Gefühl von Frieden und Sicherheit, mit dem wir aufgewachsen sind, zum Einbrechen bringen. Das sind nicht unbedingt rosige Zeiten, in die wir blicken.

Umso wichtiger ist es, dass sich nicht nur junge Leute selbst, sondern auch die Generationen darüber die Frage stellen: was können wir dagegen tun? Wie können wir dem entgegensteuern und wie können wir selbst einen positiven Beitrag schaffen, um die Zukunft besser zu gestalten? Das sind die Fragen, die sich auch das Roskilde Festival stellt.

Sie wollen die jungen Leute in dieser Hoffnung bestärken und zeigen: so könnte es aussehen, wenn wir alle an den gleichen Hebeln ziehen! Die 30.000 Freiwilligen, die das Roskilde Festival ehrenamtlich über die Bühne bringen, sind ja nicht nur während der Festivaltage da. Sie bauen das gesamte Gelände über mehrere Wochen und Monate auf, sie kuratieren das Bühnenprogramm, sie bauen Camps und Rückzugsorte, sie bringen sich aktiv mit neuen Ideen ein. So gibt es zum Beispiel einen „Community Camping“-Bereich, bei dem sich Gruppen mit einem Konzept bewerben können, wie sie sich aktiv in die Gemeinschaft einbringen können. So sind beispielsweise Pfandsammlungs-Kollektive entstanden, die die Pfanderlöse an einen guten Zweck spenden. Auch Kunstinstallationen und verschiedenen Workshops finden ihren Platz im Festivalprogramm und auf dem gesamten Gelände.


Was alles möglich ist: Frauen und POC auf Festivalbühnen!

… ihr merkt, man kann hier sehr schnell sehr tief in die Strukturen des Festivals abtauchen. Täglich ploppte der Gedanke bei uns auf „Ach, wenn sich dadurch doch nur ein paar der deutschen Festivals in Deutschland inspirieren lassen würden…“. Man könnte so viel mehr umsetzen! An Inhalten, an politischen Diskursen, an musikalischer Breite. Es ist so viel mehr möglich, als Marteria auf dem Headliner-Slot zu halten. Oder sich angegriffen zu fühlen, wenn die erschreckend (!) niedrige Frauenquote auf der Bühne kritisch thematisiert wird. Stattdessen könnte man Rosaliá oder 070Shake oder Biig Piig oder Japanese Breakfast oder Greentea Peng oder Sudan Archives oder Louis and the Yakuza oderoderoder buchen und Tausende begeistern lassen. Und das sind alles nur bekannte internationale Acts, die wir aus dem diesjährigen Roskilde Line Up gezogen haben! Dass wir in unserer deutschsprachigen Indie/Pop-Bubble so viel mehr Künstlerinnen haben, die das auch können, ist hoffentlich allen von uns klar.

Wer an dem Booking-Prozess hinter dem Roskilde Festival interessiert ist: wir hatten die Freude, zu einem Presse Q&A geladen worden zu sein, bei dem uns Head of Music Booking Thomas Jepsen genauere Einblicke in die Arbeitsweise gibt. So ist das Hauptziel des Festivals to „embrace the next big thing“. Also das bewusst nach außen Schauen, was eigentlich hinter den Ländergrenzen so passiert. Da geht der Blick natürlich viel zu den Staaten und nach England, Länder, die auch unsere internationale Musikszene sehr formen. Aber halt auch noch weiter! Wir haben so viele Künstlerinnen aus verschiedenen Ländern Afrikas oder Südamerikas gesehen, dass wir nicht umhin konnten uns zu fragen: wo sind die ganzen POC auf den deutschen Festivals? Hat sie jemand gesehen? Will sie jemand absichtlich nicht auf die Bühne lassen?

Und viel wichtiger: wieso wird so vehement an diesem sehr mit rassistischen Strukturen unterwanderten „Status Quo“ festgehalten und kein Vertrauen ins Publikum gesetzt? Wenn wir eins gemerkt haben auf dem Roskilde ist es nämlich: die Leute haben Bock. Sie haben Bock, Neues zu entdecken. Sie haben Bock, sich von Energien mitreißen zu lassen und ihre persönlichen Sommerhighlights auf dem Roskilde zu finden. Auch wenn viele der (vor allem kleineren) Bands den meisten im Publikum unbekannt waren, so waren es immer energiereiche Konzerte, mit einer Atmosphäre, die darauf schließen ließ, dass sich hier viele aufs erste Hören verliebt haben.

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Hier dürfen sich Festivalveranstalter*innen gerne Input holen:

Kurz wieder abgedriftet, zurück zum Booking. Es wurden 2022 sechs neue und junge Menschen eingestellt, die das Booking-Team von insgesamt 14 Booker*innen abrunden. 10 von diesen 14 Personen sind weiblich. … Ja, da lassen wir bewusst kurz eine Pause. Merkt ihr, wie schön sich dieser Satz liest? 10 von 14, das sind fast 75%. Noch nie waren wir auf einem so großen Festival, das uns aus Booking-Sicht so überzeugt hat, wie dieses hier. Program Director Anders Wahrén sagt:

„Our programming must be in constant development, so that Roskilde Festival stays relevant and keeps up with time. Therefore, it is necessary to move around the roles occasionally. I can support the work better when I can also relate to our surrounding world and the festival landscape in general.”

… Weshalb Scouting einer der wichigsten Booking-Prozesse hinter jeder Edition ist! 14 Menschen mit unterschiedlichen Perspektive, die sich das ganze Jahr über mit Musik aus der ganzen Welt auseinandersetzen, schauen, was für Trends gerade im Kommen sind, aber auch welche versteckten Newcomer*innen den Step auf Dänemarks größte Bühnen machen sollten. Und für Musiknerds wie uns, die die ganze Zeit nach genau solchen Acts suchen, ist das natürlich ein wahres Fest! Deshalb hier, direkt von uns an euch, einmal eine Liste an konkreten Empfehlungen, direkt von uns live ausgecheckt und validiert:

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Und damit schließen wir unseren (sehr späten aber dafür sehr langen!) Nachbericht des Roskilde Festivals 2023 ab. Es ist kein perfektes Festival und spiegelt wie jedes Festival nur das Verhalten der Gäste, welche auf eine Art auch nur das Verhalten der Gesellschaft spiegeln. Es ist aber auch ein Festival, was etliche Bemühungen mehr stellt, wertvollen Input zu diesem Verhalten zu liefern. Der Rahmen, in dem das möglich war, ist zwar nicht ganz ausgereizt, aber ganz ehrlich – ein Blick auf’s Line Up und an die Konzerterinnerungen reicht uns, dass wir damit erstmal zufrieden sind. So einen Vorsprung darf man auch einfach kurz mal genießen. Und 2024 dann ausbauen?

Foto: Flemming Bo Jensen

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