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So war Europas größtes Musikclub-Festival: Das Reeperbahn Festival 2023

Der September ist rum, der Herbst steht quasi vor der Tür und somit ist auch das diesjährige Reeperbahn Festival wieder vorüber. Auch in diesem Jahr war unser Team auf Europas größtem Musikclub-Festival in Hamburg zu Gast. Unsere Redakteur*innen Anna, Johanna, Leif, Sarah und Julia haben ihre Highlights und den ein oder anderen Geheimtipp für euch zusammengefasst.

Seit 2006 findet im Hamburger Stadtteil St. Pauli das Reeperbahn Festival statt. An vier Tagen wird die Reeperbahn zum Zentrum für den Austausch zwischen Publikum, internationalen Künstler*innen und Musikschaffenden. Ein Ort, an dem man viel neue Musik entdecken kann. So manche Newcomer*innen haben vor ihrem Durchbruch auf dem Reeperbahn Festival gespielt — um mal ein paar zu nennen: Ed Sheeran, Nina Chuba, Bon Iver, Kraftklub, Lewis Capaldi, AnnenMayKantereit oder Sigrid. Neben zahlreichen Konzerten werden auch Workshops und Vorträge angeboten sowie ein Konferenzprogramm für Musikschaffende. Thematisch dreht sich alles um unsere Popkultur. Dabei stehen vor allem aktuelle Entwicklungen der Gesellschaft und globalen Musikwirtschaft im Fokus.

Das Programm im Festival Village oder auf dem Spielbudenplatz ist für alle frei zugänglich und bietet somit auch Musik und Kultur für all diejenigen an, die kein Festivalticket haben.

Art School Girlfriend @ Nochtspeicher (© Michelle Maurer)

Anna’s Highlights


Holly Humberstone in der Großen Freiheit 36

Schon als die ersten Töne zu “Overkill” angestimmt waren, war’s um mich geschehen. Keine Ahnung, wie Holly Humberstone es macht, aber sie bringt mich einfach immer zum Weinen. Keine Sorge, das sind Freudentränen. Ihre Songs tragen eine Emotionalität in sich, die sich live noch tausend Mal intensiver anfühlt.

Holly Humberstone @ Große Freiheit 36 (© Michelle Maurer)

Die 23-jährige Britin hat am Samstagabend, dem letzten Festival-Tag, in der Großen Freiheit gespielt. Es ist der Tag, an dem viele bereits abreisen, trotzdem war die Location voll mit Fans. Und das Bleiben wurde belohnt. Trotz der im Vergleich eher großen Bühne, wirkte das Konzert sehr intim. Aber vor allem hat man gemerkt, wie viel Spaß Holly auf der Bühne hat — und das hat das Publikum angesteckt.


Bruckner in der Elbphilharmonie

Die außergewöhnlichste Location auf dem Reeperbahn Festival ist wohl unangefochten die Elbphilharmonie. Nur vier Bands haben die Ehre, dort spielen zu dürfen. Ich war bei dem Konzert von Bruckner am Freitagabend und muss gestehen: Ich war vorab sehr kritisch, was das Konzert angeht. Eine Deutsch-Pop-Band in der großen Elbphilharmonie, in der sonst Opern und Streich-Konzerte stattfinden? Aber ich wurde (zum Glück) vom Gegenteil überzeugt.

Das kleine Setup von Jakob und Matti wirkte etwas verloren in dem großen Saal. Schnell füllten die Beiden allerdings den Raum mit ihren Stimmen und zogen alle mit sich — selbst die Eltern der beiden waren extra angereist, um mitzuerleben, wie ihre Söhne in dem großen Konzertsaal spielen. “Mama, Papa, wo sitzt ihr?”, fragte Jakob nach den ersten beiden Songs und ein stolzes Elternpaar steht auf und winkt überglücklich aus dem Publikum zu.

Als besonderes Goodie gab es sogar einige Songs in abgeänderter Version mit Streicher-Arrangement und Special Guests on top: Paula Carolina und Dominik Hartz. Spätestens als die beiden auf die Bühne kamen stand wohl auch der letzte Gast. Denn die Sitzplätze im großen Saal hielten bei Songs wie “Moment” oder “Wer wir sind” nicht vom Tanzen ab.

Bruckner-Fans kennen von Konzerten den Moment, in dem die beiden in mitten des Publikums “Für immer hier” akustisch spielen. Ohne Mikrofon, ohne Verstärker. Diese Atmosphäre haben die beiden versucht, auf der kleinen Bühne im großen Saal nachzuempfinden — mit einem kleinen Mikro, um das sich die Band im Halbkreis tummelte. Alles andere war ausgeschaltet. Dank der Akustik der Elbphilharmonie entstand ein echter Gänsehaut-Moment und ein ganz neues Gefühl einer Akustik-Session.


Julia’s Highlights
Soft Loft @ N-Joy Reeperbus (© Michelle Maurer)

Wie jedes Jahr fällt mir die Entscheidung schwer, wenn ich gefragt werde, welche Acts mir am besten gefallen haben. Dennoch hat mich die Show von Singer- und Songwriterin Sophie May aus London im Imperial Theater am meisten verzaubert. Dazu hat sicherlich auch die schöne Location beigetragen. Bereits im Vorhinein habe ich mich sehr auf die Band Mar Malade gefreut, die im Knust wie zu erwarten einen Hammergig hingelegt haben. Weiche Knie gab es zum Ende des Festivals beim kleinen aber feinen Auftritt von Holly Humberstone auf dem N-Joy Reeperbus (big Fangirl-Moment an dieser Stelle). Hier noch ein paar Künstler*innen, die ich für mich neu entdeckt habe und weiterempfehlen möchte: Soft LoftBlush AlwaysGirl Scout und Temples.


Sarah’s Highlights


BIBIZA im CHIKAGO

Während ich um am Donnerstag um 19:30 Uhr bei DAMONA stand, waren alle meine Freund*innen zur gleichen Zeit im Gruenspan bei BIBIZA – und obwohl ich eine super Zeit hatte, nagte auch etwas an mir. Doch ich wollte auf mein Glück hoffen, und versuchen, sein späteres Set an dem Abend zu erwischen. Meine Friends kamen vom Gruenspan mit gemischten Gefühlen zurück: Die Stimmung war ganz vorne zwar gut, aber es war eben doch eine “Industry Show”. Da sind sich die Leute einfach zu cool, um mit zu wippen.

Bei den IMJA wurden nationale und internationale Musikjournalist*innen ausgezeichnet.

Aber da winzige Clubshows sowieso schon immer meine präferierte Art von Gigs sind, habe ich auf das Set im Chikago um 23:10 Uhr gesetzt. Ich war also sicherheitshalber überüberpünktlich (45 min. vor Beginn) an der Bar. Da konnte ich sogar gleich noch den Soundcheck sehen! Das Chikago wurde immer und immer voller, und es wurde heiß und stickig. Kaum ging die Show dann los, war die Energie auch schon bei 2000 %. Hier waren wirklich nur die Leute die RICHTIG Bock hatten. Wie zum Beispiel ich.

Weil die meisten Shows, die ich an dem Tag gesehen hatte, nur ca. 30 min. lang waren, hatte ich hier auch nicht mehr erwartet. Stattdessen wurde hier 50 min. durchgepowert!

Alle Hits, bis der Schweiß von der Decke tropft. Wiener Schickeria vom Feinsten. „Es ist so schön mit dir, zu schön, um wahr zu sein“, aber wirklich!


DOTTIE ANDERSSON in der Prinzenbar

Als ich nach den International Music Journalism Awards (IMJA) um 19:30 Uhr um die Ecke der Prinzenbar lief, standen dort schon ca. 15 Leute in einer Schlange. Und die wurde nur noch länger und noch länger. Die schwedische Sängerin war heiß heiß begehrt beim Reeperbahn Publikum. Und das absolut zurecht!

In der schönsten Location von allen (mit einer tollen Lichtershow) performte Dottie ihre an dem Tag frisch releaste EP “Drinking Gasoline” und noch mehr. Auch ein Song auf ihrer Muttersprache war dabei. Und ganz lässig spielte sie bei zwei Songs nebenbei noch am Schlagzeug. Und obwohl man ihr die Nervosität etwas anmerkte, war die Performance 10/10, und wurde eins meiner absoluten Highlights! Für nächstes Jahr solltet ihr also alle Dottie Andersson auf eure Artists to Watch Liste packen. Da kommt noch was ganz Großes, versprochen.


Johanna’s Highlights


BOW ANDERSON im Mojo Club

THALA @ Sommersalon (© Michelle Maurer)

Als Bow Anfang September ankündigte, dass sie auf dem Reeperbahn-Festival spielt, wusste ich: Egal was parallel an Programm ist, ich auf jeden Fall dieses Konzert sehen werde. Denn seitdem die schottische Sängerin 2020 ihre erste Single veröffentlicht hat, freue ich mich über jeden Release von ihr. Also höchste Zeit, sie auch mal live zu sehen. Und das kann ich allen anderen auch nur empfehlen! 

Bow ist dafür gemacht, auf der Bühne zu stehen – die authentische Show im Mojo Club hat das einmal mehr betont. Abgesehen von einem kurzen Texthänger, der sie noch sympathischer hat wirken lassen, war die Show einwandfrei. Bow vermittelte mit ihren Songs ein Gefühl der Geborgenheit und Selbstliebe. Und genau mit diesem Gefühl ging das Reeperbahn Festival für mich 2023 dann auch zu Ende.



TJARK in der Prinzenbar

Ein weiteres Highlight für mich waren Tjark. Vor allem in Kombination mit der Prinzenbar. Ich hatte oben auf dem Balkon einen Platz gefunden und konnte so die ganze Location gut überblicken. Das ganze Set über wurde getanzt, mitgesungen, gefeiert. 

Kurz vor dem Reeperbahn Festival hatte der Sänger seine erste eigene Tour angekündigt. Ich hatte das Gefühl, dieser Auftritt war der perfekte Moment, die Vorfreude darauf bei allen zu steigern und einzufangen. Denn am Ende wurden noch Rufe nach einer Zugabe laut und Tjark wirkte vollkommen überwältigt von dem ganzen Zuspruch und der Begeisterung, die das Publikum für ihn und seine Musik aufgebracht haben. 

Anfang des Jahres wurde der deutsche Sänger mit seiner Single “schon okay” erfolgreich und war im Sommer mit LEA auf Tour. Da kommt noch ganz viel Tolles auf uns zu!


HELGA! Award

Außerdem wurde auch dieses Jahr wieder der Helga! Festival Award verliehen. Dieser wird seit 2013 im Rahmen des Reeperbahn Festivals vergeben und zeichnet die besten nationalen Festivals des Jahres aus. Partner*innen der diesjährigen Verleihung waren erneut das HÖME Magazin und die LiveKomm.

Kategorien waren dieses Jahr “Feinstes Booking” (Gewinner: Nürnberg Pop Festival), “Grünste Wiese” (Gewinner: NØRDEN – The Nordic Arts Festival), “Höchster Hürdensprung” (Gewinner: Die andere Seite der Welt), “Reichhaltigste Reichweite” (Gewinner: Pferdefestival) sowie “Gemischteste Tüte” (Gewinner: Umsonst & Draußen Festival Würzburg). Was schnell klar wurde, unabhängig davon, wer den Preis letztendlich erhielt: in allen Festivals steckte unfassbare Liebe zur Veranstaltung und zur Arbeit. Sogar soviel, dass es zwischendurch kurz kitschig (aber schön kitschig!) wurde. Während der Bewerbungsphase konnten neben Nominierungen auch Liebesbriefe eingeschickt werden. Liebesbriefe an die Crew, an das Feeling, an die Festival Family. Als das Ab geht die Lutzi! Festival dann einen an die Crew adressierten Liebesbrief vorlas, wurde es schon sehr sentimental. Fazit: Wir sollten alle öfter Liebesbriefe schreiben!

The Last Dinner Party @ Uebel & Gefährlich (© Michelle Maurer)

Leif’s Highlights

Wer schon ein Mal beim Reeperbahn Festival zu Besuch war, der/die weiß vermutlich, dass man trotz akribischer Planung, lupenreinem Schlachtplan und enormer Motivation nur ein Bruchteil von dem sehen und hören wird, was man sich vorgenommen hat. So war es auch bei mir. Und wenn die Liste der Acts, die man verpasst hat länger ist, als die Liste der Gigs, die man tatsächlich erlebt hat, weiß man diese Konzerte noch viel mehr zu schätzen.


Temples im Mojo Club

Auch, wenn der Tag schon lang schien, war der Auftritt der Temples für mich obligatorisch. Eigentlich war es der Slot “Freitag, 22. September, 19:30-20:40 Uhr”, der meinen Zeitplan für das gesamte Festival überhaupt zusammengehalten hat. Ganz egal, wen ich vorher gesehen habe und nachher sehen würde (und wen eben nicht), kein Weg ging am Mojo Club und den Temples vorbei.

Die Location, muss man sagen, besticht schon dadurch, dass sie unterirdisch liegt und mir das Gefühl gab, in die Katakomben der Reeperbahn einzutreten. Außerdem hatte der bis oben hin zugestapelte Club zusätzlich Ränge, von denen die Band sogar von oben (!) zu sehen war. Was für eine Aussicht.

Aber die Musik war noch besser. Der handgemachte Neo-Psychedelia Sound der vier britischen Musiker brachte jede*n Zuhörer*in in Ekstase. Nein wirklich, sämtliche Energie, die von der Bühne kam – und das war eine Menge – wurde unmittelbar vom ausgelassen tanzenden Publikum zurückgestrahlt. Für alle, die auf waschechte Musik, viel Gitarre und klassisches Rockkonzert-Feeling stehen, sind Temples schon längst kein Geheimtipp mehr.


Korea Spotlight Showcase auf der Spielbude XL

Auch dieses Jahr wurde das Korea Spotlight Showcase, welches von popup-records betreut wurde, für mich eine Überraschung der positiven Art. Denn, wenn ich ehrlich bin, denke ich immer im Vorhinein, dass ich mit Musik aus Korea nicht viel anfangen kann. Zurecht scheint da die Frage: Warum denn nicht? Und darauf weiß ich keine Antwort. Vor allem die Acts auf dem Showcase haben mir gezeigt, dass meine Annahme über mich selbst komplett falsch ist.

Wie schon in der Einleitung beschrieben, ist der Spielbudenplatz, auf dem sich die Bühne der Spielbude XL wiederfindet, auch für Menschen ohne Ticket zugänglich war. Dementsprechend gefüllt war der eigentlich freie Platz vor der Bühne. Mein persönlicher Favorit aus dem gesamten Showcase-Lineup war die Band cobota. Sie haben mich mit ihren klaren Gitarrenklängen, hypnotisierenden Bassläufen und prägnanten Drums überzeugt. Ganz klar kommt bei mir da der Fan von analoger Musik wieder zum Vorschein. Bei dem Stichwort muss ich in meinem vorletzten Satz als Tipp die Band Dirty Sound Magnet erwähnen. Reinhören, lohnt sich.


Fotocredits: Michelle Maurer

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