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shame und ihr zweites Album “Drunk Tank Pink”

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shame aus South London ist längst kein Geheimtipp mehr. Nach ihrem erfolgreichen Debüt 2018 veröffentlicht die Post-Punk Band den Nachfolger „Drunk Tank Pink“ beim Label Dead Oceans. Und dieses Album erwischt mich wie der Schneeball von Justin aus der vierten Klasse, den ich nicht kommen sah. Es ist eiskalt und kribbelt, während es langsam wieder warm wird und sich irgendwie gut anfühlt.

Für viele Junge Musiker und Bands, die mit ihrem Debütalbum Erfolg hatten, ist das zweite Werk eine große Herausforderung. Es sollte innovativ sein, aber an die altbewährten Sounds anknüpfen. Und oft muss es schnell gehen, denn Label und Fans warten sehnsüchtig. shame hat sich dieser Herausforderung gestellt und einen absoluten Brecher an den Start gebracht, der das Debüt “Songs of Praise” in vielen Punkten in den Schatten stellt.


Von 100 auf 0

Ich muss schon sagen, ich habe offensichtlich eine Schwäche für rüpelhafte englische Bands wie shame. Ich mag wie sie fluchen, jammern und traurige Angelegenheiten so stark verzerren, dass man am Ende darüber lachen möchte. Obwohl es überhaupt nicht komisch ist.

Was diese Band auf ihrem zweiten Album antreibt sind Themen wie Identitätskrisen, Realitätsverlust und Psychosen. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass diese fünf Jungs seit ihrem 16. Lebensjahr nichts anderes machen, als durch die Welt zu touren und eine unfassbar hohe Anzahl an Konzerten zu spielen. Die Corona-Pandemie hat sie in einer gewissen Art und Weise zurück auf den Boden der Tatsachen geholt und diese Gefühle haben sie eindrucksvoll in „Drunk Tank Pink“ verarbeitet. Der Opener, der passenderweise „Alphabet“ heißt, gibt die Richtung der folgenden elf Tracks vor. Treibendes Schlagzeug und ein ebenso treibender, dröhnender Basslauf. Dieses Ensemble eingebettet in einen Noisefloor mit kurzen, akzentuierten Gitarren. Und textlich kann ein Album wahrscheinlich auch kaum schöner beginnen:

„Now what you see is what you get,
and I still don’t know the alphabet“

Mit diesen Worten bringt shame die Maschinerie ihres neuen Werks ans Laufen. Ein Motor, den man nicht mehr abstellen will, auch wenn die giftigen Gase dieser schwerwiegenden Themen langsam durch den Schlauch am Fenster ins Auto dringen.


It’s about silence

Wenn man shame einmal live gesehen hat oder die Streams von KEXP kennt, merkt man, wie viel Energie diese fünf Musiker aufbringen können. Umso schwerer vorzustellen, dass diese Energie von jetzt auf gleich ausgebremst wird und sich der Alltag radikal ändert. Im Song „Nigel Hitter“, der erst vor wenigen Tagen als letzte Single released wurde, singt Sänger Charlie Steen eben von diesen Problemen. Alles, was für uns Normalos wie das Alltäglichste der Welt scheint, muss neu entdeckt und gelernt werden. Die Faszination verschiebt sich. Im Instrumental spiegelt sich diese Verschiebung in rhythmischen Überlagerungen der Gitarren wider, die von Drums und Bass gekontert werden. Spätestens jetzt wird deutlich, wie sehr sich die Band musikalisch gewandelt hat und wie vielschichtig ihr neuer Sound geworden ist.

An Zeilen wie diesen merkt man, wie kaputt sich diese Band gemacht hat. Dazu sagt Steen selbst:

„You become very aware of yourself and when all of the music stops, you’re left with the silence. And that silence is a lot of what this record is about.”

Dass die Musiker von shame überanstrengt und müde waren, ist nach bis zu 300 Konzerten pro Jahr wohl nachvollziehbar. Trotzdem haben sie es offensichtlich geschafft, zu neuen Kräften zu kommen. Und als perfekt eingespielte Band unglaublich gute neue Musik zu schreiben. Das beweist auch der nächste Song „Born in Luton“, der nach meiner Interpretation die Schwierigkeiten des „Irgendwo-Ankommens“ und „Zuhause-Seins“ versinnbildlicht.

„Buzzer’s broken, I guess I’ll just wait,
No umbrella and it’s starting to rain,
There’s never anyone in this house“


Rosa beruhigt die Nerven

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Die Songstrukturen auf „Drunk Tank Pink“ sind ebenfalls deutlich komplexer geworden im Vergleich zu ihrem Debüt „Songs of Praise“, wahrscheinlich in Analogie zu shames inneren Gefühlswelt. Bei „Born in Luton“ ändert sich das Tempo mitten im Song und leitet einen epischen, Post-Hardcore-artigen Downtempo Part ein, der einen ganz tief in den Sessel drückt. Wie ein nervender Wecker-Jingle kommt folgend der Song „March Day“ daher. Verspielte Gitarren, ineinander verzahnt und verwurstet plus die unangenehme aufgesetzte Fröhlichkeit in der Stimme von Charlie Steen sorgen für ein hyperaktives Hörbild. Ironischerweise geht es im Text darum, nicht schlafen und runterkommen zu können. Ich werde schon fast irre, wenn ich den Song ein paar Mal hintereinander höre, die Kulisse stimmt also.

„In my room, in my womb,
Is the only place I find peace,
All alone, in my home,
Yes I still can’t get to sleep“

„Womb“, also Gebärmutter, nennt die Band die kleine Abstellkammer, in der sich Charlie Steen zurückgezogen hat, um die Texte des neuen Albums zu schreiben. Angeblich in einem Rosa-Ton gestrichen, der auch die Nerven von Insassen einer Ausnüchterungszelle beruhigen soll, ist diese kleine Kammer für mich das ganze Album über gut vorstellbar und sehr präsent. Daher rührt wahrscheinlich auch der Albumtitel, „Drunk Tank Pink“.

Mit „Water in the Well“ schließt die erste Hälfte des Albums ab und lässt mich sprachlos und sabbernd zurück. „Water in the Well“ ist ebenfalls schon vorab als Single erschienen und ich habe es so dermaßen abgefeiert wie keinen anderen Song in letzter Zeit. Ich glaube immer noch, das ist einer der besten Songs, die ich je gehört habe. Hier wird das ganze Kompositions-Genie der Band deutlich. Trotz der relativ kurzen 03:08 Minuten besteht das Stück aus verschiedenen Parts, und jeder Part kommt mit einer neuen Idee um die Ecke. Die Art und Weise, wie shame überleiten und die Parts miteinander verknüpfen ist so außergewöhnlich gut, davon werde ich wirklich süchtig. Die Instrumentierung des Songs erinnert mich außerdem auch an eine meiner Lieblingsbands, nämlich die Talking Heads, die auf diesem Album öfter mal als Einfluss zu vernehmen sind.


How do we deal with reality?

Düster und unheilvoll leitet „Snow Day“ die zweite Hälfte ein. Der shame-typische Spoken Word-Stil kommt hier perfekt zur Geltung, wenn Steen uns mit einer unheimlichen Stimme von Realitätsängsten und Fieberträumen erzählt.

„And everything comes together at once,
It looks like the ocean,
And you wanna just dive in“

Zwischendurch lockern funkige Gitarren das Stimmungsbild etwas auf. Die auf dem ganzen Album außergewöhnlich ausgefeilte Rhythmik der Musik rückt auch hier wieder in den Vordergrund und beendet den Song anders als zunächst vermutet. Das Stück „Human for a Minute“ könnte von der erst kürzlich gescheiterten Beziehung Steens handeln. Die besonders tiefe emotionale Ebene aller Texte auf dem Album kommt hier noch mal richtig zur Geltung, begleitet von dem insgesamt ruhigsten Instrumental. Das mit nicht mal zwei Minuten sehr kurze Stück „Great Dog“ versprüht eine spritzige Punk-Attitüde und leitet in den Song „6/1“ über, der von Identitätsproblemen und Selbstzweifeln handelt.

„I pray to no God,
I am God“

Mit Konventionen brechen

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Besonders prägnant sind hier die klingelnden Gitarren und deren frische Sounds. An solchen Stellen hört man gut, dass Sean Coyle-Smith, einer der beiden Gitarristen, keine Lust mehr auf „langweilige“ Gitarrenmusik hatte.

„For this album I was so bored of playing guitar. The thought of even playing it was mind-numbing. So I started to write and experiment in all these alternative tunings and not write or play in a conventional ‘rock’ way.”

Außerdem wird in diesem Song nicht nur die eigene Identitätskrise angesprochen, denn die Band merkte im Schreibprozess schnell, dass dieses Thema nicht nur sie selbst beschäftigt, sondern ihre ganze Generation. Dazu Coyle-Smith:

„It didn’t matter that we’d just come back off tour thinking, ‘How do we deal with reality!?’… I had mates that were working in a pub and they were also like, ‘How do I deal with reality!?’ Everyone was going through it.”

Nach „ Harsh Degrees“, das sich chaotisch und noisy aufbäumt und den Kontrollverlust durch eine Marionetten-Metapher verkörpert, folgt auch schon der letzte Streich von „Drunk Tank Pink“. Der Song „Station Wagon“, übersetzt etwa „Kombi“, beginnt leise mit einem Bassriff und steigert sich über die Länge des Songs in ein lautes und ausartendes Getöse, das einem Hören und Sehen vergehen lässt. Charlie Steen schreit am Ende in kompletter Ekstase seine rhetorische Rede ins Mikrofon und lässt mich verstört zurück. Und ich verstehe zwar kaum ein Wort, aber ich glaube ihm jedes Einzelne.


Fazit

Ihr habt wahrscheinlich gemerkt, dass ich nicht ganz so kühl und neutral bleiben konnte. „Drunk Tank Pink“ hat das Potenzial für einen Klassiker und ich bin gespannt, was diese Band als nächstes macht. Für mich ist dieses Album perfekt. Punkt.

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Fotocredit: Sam Gregg

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