In diesen dunklen und kalten Tagen veröffentlicht die Kölner Band Albert Luxus heute ihr Album „YinYin“ und bringt uns damit den richtigen Soundtrack für gedankenverlorene Nächte in schweißnasser Flanellbettwäsche. Der aufmerksamen Leser:in mag hier auch schon aufgefallen sein, dass „YinYin“ irgendwie seltsam anmutet, denn da fehlt doch was? Von dem in der ganzen Welt beliebten Nackentattoo „Yin Yang“ ist bei Albert Luxus nur noch das einsame Ungleichgewicht der Einzelkomponente geblieben.
„Yin“ bedeutet dunkel, kalt, negativ. Und in Verbindung mit „Yang“ – hell, hoch, positiv – bildet es nach der traditionellen chinesischen Philosophie das essentielle Gleichgewicht der Kräfte. Küchentischphiliosophie Grundkenntnisse. Schon bei einmaligem Hören des Albums wird klar, warum es nicht „YangYang“ heißt, denn Albert Luxus hält der Gesellschaft erbarmungslos den Spiegel vor. Und der zeigt eher so die böse Stiefmutter als das hübsche Schneewittchen. Die Harmonie unserer schönen Welt scheint einige Dissonanzen zu verbreiten. „YinYin“ soll uns das aufdröseln.
Kopfloses Gedudel oder Befreiungsschlag?
Als passende Einleitung in diesen Themenkomplex bietet sich der Titelsong „YinYin“ an. Die minimalistische Bandbesetzung kommt schon fast nur mit dem Groove aus Bass und Schlagzeug aus, um den Song treiben zu lassen. Die Blubbersounds der Sologitarre und die psychedelischen Vocaleffekte sorgen für ein Gefühl der Schwerelosigkeit im freien Fall. Im Text hängen die rhetorischen Fragen nahtlos aneinander. Sie erwarten keine Antworten oder geben sich gleich selbst welche. Ein Gefühl von Orientierungslosigkeit breitet sich in mir aus, die Orientierungslosigkeit einer ganzen Generation. Alles überschlägt sich und schichtet sich zu einem großen Haufen eitler Individualitätsmerkmalen. „Wo leuchtest du?“ — Was ist dein Steckenpferd? Wie stellst du dich gern zur Schau? Der Song erklärt Selbstinszenierung als wesentliche Gepflogenheit. Eine gesellschaftliche Mechanik, um aus der Masse hervorzustechen.
Solche Phänomene lassen sich in den Texten von Matthias Sänger immer wieder blicken. So auch im Track „Gott vs Tinder“, über den lakonischen Hedonismus und das neue sexuelle Erwachen der 10er Jahre, das musikalisch so passend durch das leise „Ulalala“ des Backingchors aufgriffen wird. „Ulalala“, kopfloses Gedudel oder Befreiungsschlag? Der Vergleich Tinder und Gott mag an einigen Stellen hinken, aber greift doch interessante Denkanstöße auf: Monogamie der heiligen Ehe vs. neue Bekanntschaften, die die Bettlaken kaum erkalten lassen. Oder Tinder als Überlistung der natürlichen Paarungszeit 1 Mal im Jahr auf der Firmenweihnachtsfeier. Mir gefällt das sehr.
“Hier ist es kalt, hast du da Heizung?”
Die Texte auf „YinYin“ sind die meiste Zeit angenehm uneindeutig und lassen viel Platz für Interpretation. Das Schöne daran: Ich weiß manchmal nicht, ob ich die Zeilen lustig oder bitter finden soll. Sie sind im besten Sinne ambivalent und polarisieren, da sich jede:r darin an der ein oder anderen Stelle wiederfinden kann. Und deswegen vielleicht das Lachen dann kurz im Hals steckenbleibt, weil man sich ertappt fühlt.
In „Zeitzonen“ betören zwar die geschmackvollen Gitarrensounds unsere Ohren, die Lyrics kritisieren nach meinem Verständnis aber gleich mehrere Verhaltensweisen scharf. Zum einen die Jagd nach neuen Krisenherden und spannenden Katastrophen in der ganzen Welt und der damit verbundene Voyeurismus von Menschen mit Helfersyndrom. Andererseits aber auch die Apathie so mancher Ewigdaheimgebliebenen, die sich nicht im Traum vorstellen können, dass in Afrika jemand ein Smartphone besitzt. Eventuell geht es auch einfach um zwei Personen, die sich in verschiedenen Teilen der Erde befinden. Und nachts oder ganz früh morgens aufstehen, um sich eine halbe Stunde im Videochat sehen zu können, weil sie sich so sehr vermissen. Wer weiß das schon. „Heizung“ auf „Zeitzone“ zu reimen ist allerdings nichts anderes als äußerst erfrischend und elegant.
Mit Allradantrieb zum Olymp
Die Szenerie im Song „Himalaya“ lässt mich unweigerlich an die abgefrorenen Gliedmaßen von Extrembergsteiger:innen denken, die sich nach irgendeinem Blockbuster mal ganz eklig in mein Gedächtnis gefrierbrannt haben. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt: war es das wirklich wert? Die gleiche Frage stelle ich mir auch im Song, in dem die Bezwingung des Gipfels den sozialen Aufstieg verbildlicht. „Vis a vis, wie mit den Stars“. Ganz weit oben, auf dem Olymp. Und trotzdem keine Zehen mehr, toll. So mag es einigen ergangen sein. Von hier unten aber auch schwer zu beurteilen.
Ein weiteres Sinnbild für den sozialen Aufstieg begegnet uns dann durch das Statussymbol überhaupt: Ein großer, dicker Einfamilienpanzer, der sich durch die Innenstädte schiebt. Der “SUV”. Der gleichnamige Titel trumpft mit Retro-Indierocksounds auf, die an Balthazar oder Grizzly Bear erinnern. Der fadenscheinige Reiz dieser Dekadenz auf vier (oder mehr) Rädern wird hier gekonnt zynisch an den Pranger und in Frage gestellt. Somit hätten wir wirklich schon einige Schattenseiten des 21. Jahrhunderts abgehandelt, dabei sind wir gerade erst bei der Hälfte des Albums angekommen.
“Eine Irrfahrt durch den Park
Die Pferde rauchen stark
Die Blicke scharf und gut dressiert
Es riecht so gut nach Gras
Scheiben aus Panzerglas
Dahinter geht’s auch schon zu mir”
Der schönste Platz ist immer an der Theke
Das Zusammenspiel von Drums und Bass ist auf Albumlänge besonders gelungen und läuft auch in „Ein Glas aus Sympathie“ wie eine präzise Dampfmaschine im Takt. Dazu scheucht uns der Schellenkranz durch den Song und lässt selbst den einsamsten Introvert in der Ecke mit dem Fuß wippen. Das ist der Soundtrack für den Kneipenabend, der eigentlich nach ein oder zwei Bier enden sollte und mit Erwachen auf den Badezimmerfliesen seinen krönenden Absturz findet. Dieser Song ist ein Toast auf all die guten Freunde, die auch mal Scheiße labern, wenn sie voll sind. Und natürlich ein Toast auf all die guten Freunde, die meinen und deinen eigenen gequirlten Quark wohlwollend abnicken, wenn wir voll sind. Dieser Song ist die Erkenntnis, dass nicht jedes ehrliche Wort auch wahr ist.
Musikalisch passt auf „YinYin“ alles richtig gut zusammen. Unter dem Deckmantel „Indiepop“ sammelt sich hier so einiges an. An mancher Stelle grüßt zum Beispiel ein Folkrock à la Wilco oder Fleet Foxes, an anderer Stelle habe ich das Gefühl, hier die ausgefeilte Version von Bands wie Von Wegen Lisbeth oder Provinz vor mir zu haben. Auch weil Die Höchste Eisenbahn als Referenz sicherlich für Albert Luxus eine Rolle spielt, muss die Band den Vergleich keineswegs scheuen und steht durch die raffinierten Harmonien und die lyrische Qualität der Texte mal mindestens auf Augenhöhe.
Zwischen Voodoo und Hey Hey Yeah
Über den Pianopop von „Voodoo“, der frühe Keane– oder Coldplayvibes bereithält, zeigt sich unter anderem in Songs wie „Sibirisches Eis“ auch ein weiteres prägendes Instrument dieses Albums. Der Vintage-Synthesizer „Solina String Ensemble“, der eine Brise Schlaghose, Mustertapete und Früchtebowle in euer Wohnzimmer pustet. Worum es im Text geht kann ich diesmal wirklich nur mutmaßen. Vielleicht um exzessiven Drogenkonsum? K.O. Tropfen? Oder halbnackt im Winter aus dem Club kommen und sich serotoninbetrunken die Erkältung des Lebens zuziehen. Oder was komplett anderes.
In einer feuchtkalten Novemberkulisse eskortieren uns die „Einsamen Hornissen“ allmählich zum Ende des Albums. Während unter dem Raureif die Sorgen und Geheimnisse der einen eingewintert werden, suchen die letzten überlebenden Hornissen den Boden nach etwas Erhellendem ab. Das Streben nach Glück ist ein wiederkehrendes Motiv auf „YinYin“, das hier durch Übereifer und Wahnsinn der in Panik zustechenden Hornissen beschrieben wird. „Hey Hey Yeah“ — das ist der hysterische Schlachtruf der Opportunisten. Und klingt dabei wie ein energetischer Refrain von The Verve, nur halt 25 Jahre später.
Fazit
Ich bin nie über Küchentischphilosophie Grundkenntnisse hinausgekommen, aber wenn ich eins mit Sicherheit sagen kann, dann dass Albert Luxus auf „YinYin“ absolut im Gleichgewicht schwingt. Die Texte sind besonders ausschlaggebend für die Einzigartigkeit dieser Band. Niemals verliert sich auch nur eine Zeile in floskelhafter Langeweile oder biedert sich irgendwelchen Popnormen an. Klar, die Themen wiegen schwer und Gesellschaftskritik ist immer wie eine heiße Kartoffel im Mund, die man einfach nur schnell runterschlucken möchte. Aber diese Platte ist angenehm unkitschig und bedient sich eben nicht am schillernden Pathos. Dazu eine wirklich überzeugende Band mit viel Schwung und eine alternativpoppige Produktion. So sollte deutschsprachige Indiemusik immer sein: fordernd, witzig und verzwickt. Für mich definitiv eines der besten Alben dieses Genres in 2021!
Fotocredit: Laurentia Genske