Wenn düstere Streicher auf bedrohliche Trommeln treffen, dann kann das nur eins bedeuten: Mine ist zurück. Mit viel Wucht und viel Perfektion – lyrisch als auch musikalisch. Mines viertes Album „Hinüber“ übertrifft alles, was Fans und Nicht-Fans erwartet haben. Zwischen ausgefeilten Produktionen, namenhaften Features und wichtigen politischen Themen ist das hier eigentlich nur ein Hit an Hit. Es ist wirklich ziemlich, ziemlich gut. Macht euch bereit auf eine ausführliche Dosis purer Begeisterung.
„Die ganze Welt hat sich auf meine Brust gesetzt“
Jedes Mal wenn ich für Untoldency eine Album-Review schreibe, denk ich mir – das wird nicht besser. Das ist hier die Platte des Jahres, das kann nichts übertrumpfen. Und dann kommt da keine zwei Wochen später eine neue Platte um die Ecke und ich muss alles wieder revidieren. Letzte Woche hab ich mich Hals über Kopf in die EP von Schmyt verliebt und jetzt kommt Mine und ich bin mir nicht mehr sicher, ob Schmyt was dagegen ausrichten kann. 2021 – alles ist scheiße, aber neue Musik ist so gut wie lange nicht mehr. Für die, die Mine nicht kennen, ist Hinüber ein sehr willkommener und dankbarer Einstieg. Für die, die Mine schon kennen, ist Hinüber (meiner bescheidenen Meinung nach) besser als alles, was sie vorher gemacht hat. So let’s begin, shall we.
Ich hatte es in der Einleitung gespoilert: Hinüber beginnt mit düsteren Streichern und bedrohlichen Trommeln. Es beginnt mit Wucht. Der gleichnamige erste Song öffnet sich wie ein Akt über das Album. Wenn ihr diese Kombination aus Streichern und Trommeln hört, könnt ihr nicht anders, als euch das bildlich vorzustellen. Mine schreitet wahrhaftig in ihr eigenes Album hinein und alles andere, was parallel geschieht, hält an. Hinüber ist in der ersten Minute schon so laut, so eindrucksvoll und setzt den Ton des Albums perfekt in Szene. Es ist 2021: weltumgreifende Pandemie, Aussterben von Tieren, Verschmutzung der Meere, menschenrechtswidrige EU-Politik an den Grenzen, rassistisch motivierte Gewalt der Polizei, … wo fängt man an, wo hört man auf. Dieser Zustand der Welt ist echt und kann lähmend wirken, wenn man zu lange über ihn nachdenkt. Aber nach lähmend kommt wütend. Und nach wütend kommt Hinüber.
„Das Meer ist aus Plastik, der Hunger ist groß
Solang du nicht matt bist, lass ich dich nicht los
Das alles hält sich nur so lang
Bis es hinüber ist irgendwann.“
Manchmal stell ich mir vor, wie es ist als Künstlerin den eigenen Song das erste Mal selbst fertig zu hören. Wenn ich mir das bei einem Song wie Hinüber vorstelle, hab ich ehrlich gesagt ein bisschen Gänsehaut. Als wäre das noch nicht genug, holt sich Mine noch Sophie Hunger dazu, und das ist nicht nur eine absolut wunderschöne Kombination, sondern rundet das Ganze nochmal eindrucksvoll ab.
Verführerische Pop-Melodien und funkige Beats
Nach diesem Opener muss ich eigentlich erst mal durchatmen. Mine gibt mir diese Chance, auf eine Art, denn die wuchtige Untergangsstimmung wird ersetzt durch astreinen Pop. Bitte Bleib ist musikalisch sehr viel zugänglicher als Hinüber. Eigentlich kann man mich gar nicht so in der Pop-Spalte finden, vor allem wenn’s deutschsprachig ist. Aber Mine bestätigt die Ausnahme. Ich kann nicht genau sagen, was es ist, was siemit mir macht, dass ich ihre Songs instinktiv immer ganz laut hören will. Aber es ist auf jeden Fall da. Und so auch bei Bitte Bleib. Diese Melodie hat einfach was, dem ich sofort verfalle.
Und wenn wir schon mal unter uns sind (ich tu einfach mal so): Ich hab einen riesen Crush auf Mines Stimme. Sie ist so klar und so on point, dass sie gleichzeitig gute Laune macht und unter die Haut geht. Sie singt Sachen wie „Bitte bleib, bitte bleib nicht wie du bist“ und inmitten eines eigentlich super zugänglichen Popsongs muss man da schon mal kurz ne Sekunde drüber nachdenken.
Mine ist tatsächlich eine der wenigen Künstlerinnen, die ich kenne, die fast gleichermaßen im deutschen Pop- als auch Rapkosmos existieren. Und das nicht nur aufgrund der Features mit Deutschrappern wie Fatoni, Samy Deluxe oder Die Orsons. Mine arbeitet auch in ihrer eigenen Musik mit einfach geilen Beats, die in beiden Welten funktionieren. Wie genau sie das macht, das weiß wahrscheinlich nur sie, aber es ist einer der Hauptgründe, warum sie in der Musikszene als so begnadete Musikerin gilt. KDMH (Kannst Du Mich Hören) zeigt genau das. Im Interview letzte Woche erzählte Mine, dass sie für das Album das erste Mal richtig viel Geld in die eigene Produktion stecken konnte. Und das war bestimmt teuer, aber hat sich auf jeden Fall gelohnt. Drei Lieder ins Album und ich bin absolut begeistert. KDMH hat zum Ende hin ein bisschen was von einem Rave im Rausch und reißt einfach nur alle Emotionen mit.
„Es zerreißt mein Herz“
Mine hat diese Art, die einfach berührt. Schon Klebstoff, der Titelsong ihres letzten Albums, hat mich einfach auf diese eine unbeschreibliche Art mitgenommen und tut es immer noch. Mine spricht die Gefühle an, als würden sie direkt vor ihr stehen. Das ist einfach alles direkt auf den Punkt unverschont und ehrlich ausgedrückt. Mein Herz ist einer der schönsten und zugleich kitschigsten Pop-Balladen dieses Jahr. Es drückt so eine tiefe innere Traurigkeit aus, die, kitschig hin oder her, ich in diesen 3 Minuten voll fühle.
„Es ist schon Absicht, dass einige Leider textlich zugänglicher sind. Ich fand es schon immer total krass, wenn dich Popsongs unmittelbar erreichen, aber trotzdem nicht so ekelhaft anbiedernd um die Ecke kommen. Bei Liedern wie ‚Mein Herz‘ habe ich selber schon mal gedacht: ‚Krass, das hätte ich früher wahrscheinlich nicht so geschrieben, weil ich schlicht nicht den Mut gehabt hätte, das so direkt zu formulieren.‘“
Audiot ist der angekündigte Deutschrap Song, in dem Mine beweist, dass für sie nichts einfacher zu sein scheint, als einen Hip Hop Beat zu bauen. Mit Dexter und Crack Ignanz hat sie zwei Deutschrapper dazu geholt, die sich auf diesem sehr wohlfühlen. Audiot ist eine Anklage gegen den Formatradiomist, die immer gleichen Songs, die auf dem Radio rauf und runter laufen und dabei so relativ ohne Bestand zu sein scheinen.
Nicht nur inhaltlich, sondern auch musikalisch passt Audiot nicht in diese Welt, in der alles so identisch klingt. Es fängt sehr ruhig an, mit vielen im Autotune gesungen übereinandergelegten Spuren. Dann kommt der Beat rein und, wie gesagt, Beats kann Mine. Die Strophe von Dexter läuft dagegen auf fast kompletter Stille und lässt seine Lyrics den ganzen Raum einnehmen. Ich muss sagen, das klingt fast schon bisschen sexy. Auch Crack Ignanz hat einen meiner Lieblingsparts auf dem ganzen Album, stilistisch trappiger, doch nicht weniger gut. Mine kommt mit dem leicht funkigen Beat wieder rein und alle leiden sie unter dieser langweiligen Gleichgültigkeit im Leben. So kann Musik klingen, wenn sie nicht für Radios geschrieben wird.
„Unser Kompass pocht und wir schweben los, hinein ins Kaleidoskop“
Habt ihr euch mal gewundert, wie Eiskugeln in Form von Musik klingen? Ich mich auch nicht. Wollt ihr aber wissen, wie? Genau so.
„Ich finde, ein Album darf nicht langweilig sein. Das ist mein wichtigster Anspruch. Ich hatte schon so viele deepe, schwermütige Songs und habe die ganze Zeit überlegt, was ich denn noch Positives besingen könnte.. Dann dachte ich plötzlich an Eis und hab ich diesen Beat gebaut, der mir so ein wenig cremig vorkam und wie Eis für mich klang. Das hatte dann wiederum Einfluss auf den Text, bei dem ich einfach Riesenspaß hatte. Ich liebe diesen Song, weil ich so was Leichtes noch nie auf einem Album hatte.“
Für mich ist Hinüber, wenn ich jetzt ein Zwischenfazit ziehen sollte, wirklich das stärkste Mine Album bisher. Ich bin, wie gesagt, auch bei Klebstoff 100% dabei und liebe das Album sehr, aber Hinüber hebt das nochmal alles eine Stufe höher. Es ist ein Mix aus allen möglichen Genres und nichts klingt gleich. Und das ist etwas, was wirklich ziemlich selten geworden ist.
Die zweite Hälfte des Albums leitet Lambadaimlimbo ein. Lambadaimlimbo könnte so ein Song sein, der ein bisschen in den Weiten des Albums verschwindet, aber es lohnt sich wirklich, ihn festzuhalten. Es klingt wie ein Urlaubsausflug an warme Strände mit Sonnenuntergängen und spanische Gitarren. Ich weiß nicht, wie’s euch geht, aber ich will da hin. Elefant wiederum lebt von funkigen Gitarren, Synths, Trompeten und ganz viele andere übereinandergelegten Sounds. Es ist die besungene Metapher des Elefanten im Raum und reiht sich in die poppigen Songs des Albums ein.
„Die Welt brennt“
Das Album springt von Genre zu Genre und scheint nicht aufzuhören, zu überraschen. Tier ist das komplette Gegenteil vom Pop-Hit Elefant, aber dadurch textlich einer der meiner Meinung nach stärksten Songs auf dem ganzen Album. Gebt euch doch einfach nur mal den Refrain:
„Und ich sehe, was mir durch die Hände fällt
Und ich frag mich, was mich noch am Leben hält?
Ist es nur die Sucht am Leben selbst?
Mama hat gesagt, alle seh’n nur sich selbst
Pass dich daran an oder zu zerfällst
Fällst aus dieser Welt“
Über einen tiefen Bass und orgelhaften Synths singt sich Mine wieder direkt in mein Herz. Diese ganz weit entfernte Trompete? It’s working. Mein vorhin erwähnter Crush auf ihre Stimme kommt hier nochmal völlig anders zu tragen. Das kann aber auch daran liegen, dass diese Thematik einfach alle meine Schwachpunkte trifft – this girl be overthinking things lot. Tier ist der perfekte Soundtrack dazu. Es ist die große Existenzkrise in dieser kaputten Welt. Es ist ein Ausdruck der verzweifelten Fragen, die man sich immer und immer wieder stellt und die irgendwie keine Antwort zu haben scheinen. „Wo soll ich mit den Fragen hin, wie machen diese Fragen Sinn, wenn eigentlich nur zählt ,auf dieser Welt, worein ich geboren bin“.
Eigentlich kann man mit diesem Satz auch das ganze Album beenden, ich wäre fein damit. Aber der wichtigste Song fehlt noch: Unfall. Ich hab jetzt schon so viel zu diesem Album geschrieben, dass ich euch zum Schluss, und in dem Kontext zu Unfall, einfach mal ein bisschen „Fremd-Content“ ans Herz legen will. Rosalie Ernst hat im Kaput-Interview mit Mine über all das gesprochen, um das es in Unfall geht: Europäische Werte, Gleichheit, Umweltschutz und Aktivismus. Und das könnt ihr euch hier durchlesen, weil es ist wirklich nicht nur gut, sondern auch im gesellschaftlichen Diskurs sehr wichtig.
Fazit
Ich hätte wirklich noch viel mehr über dieses Album schreiben können. Man kann es von vorne bis hinten durchhören und wird nicht enttäuscht. Hinüber ist weit weg von einem durchschnittlichen, leicht langweiligen full-length Album. Hinüber ist eigentlich all das, was die deutsche Musikszene gerade braucht. Mehr Diskurs, mehr politische Stellung, mehr gut geschriebene Pop-Songs. Hört es euch an und packt es am besten auf Repeat, weil kann man durchaus öfter als ein Mal hören:
Fotocredit und Artwork: Simon Hegenberg, Jonas Gödde