Es ist kein Revival, sondern eine Reinkarnation. Naomi Sharon belebt die schönste Frauenstimme der jüngsten Vergangenheit wieder, und zwar die von Sade. Mit geschlossenen Augen und gespitzten Ohren hört man den Unterschied kaum. Doch der Sound ist ein neuer. Naomi Sharon holt die Musik Sade‘s in die Gegenwart und mischt die bezaubernde Klangfarbe ihrer Stimme mit modernen und sinnlichen Produktionen.
Definition of Love
Obsidian steht für Klarheit und Positivität. Dem aus abkühlender Lava entstehenden Glas werden schützende Kräfte vor negativen Schwingungen nachgesagt, sowie die Fähigkeit toxische Energien zu reinigen und Chaos zu klären. Das Resultat: die Bedeutung der Liebe. Bei maximalem Verstand besingt Naomi Sharon auf ihrer Lead-Single ihre persönliche „Definition of Love“. Über einer meditativen Soundfläche mit plätscherndem Wassergeräuschen gleitet die raumeinnehmende Stimme der Sängerin begleitet von Hallfahnen durch die erste Strophe und den ersten Refrain, ehe der einsetzende Beat rhythmischen Halt gibt. Die Drums sind minimalistisch und dennoch prägnant, dank des geschickt eingesetzten Delays. Der sich ohne Gesang etablierende Beat sowie die anschließend gekonnt gesetzte Kunstpause geben Raum zum Durchatmen und Gedanken schweifen lassen.
Mit der Klarheit, die die musikalische Komposition auszeichnet, beschreibt Naomi Sharon auch ihre Gefühle: „All I see, all I know, is that you are the definition of love“, und bringt ihre Ekstase mit den Worten „Heaven’s in your eyes, let me follow“ zum Höhepunkt. Die mantraartige Wiederholung dieser Zeile sowie der Zeile „Won’t rest ‚til I know for sure, won’t rest ‚til I know“ manifestieren den Wunsch nach Liebe und unterstreichen die Bestimmtheit ihrer Gefühle. Nach eigenen Aussagen deutet die Sängerin die Liebe von innen heraus und setzt die Liebe zu sich selbst als Maßstab.
If this is Love
Aus dem klaren Verlangen nach romantischer Intimität entwickelt sich deren Verneinung: „If this is love, then I don’t want it“. Im Sinne des Albumtitels klären sich auf dem zweiten Song des Albums die persönlichen Wünsche auf und stoßen daraus resultierend toxische Energien ab. Dies alles geschieht erneut über durch plätscherndes Wasser angereicherte Klangflächen und zurückhaltender Percussion. Die Bedeutungsschwere der sich wiederholenden Refrain-Zeile wird durch die zweite Stimme verstärkt. Aus der Verneinung der Liebe ergibt sich wiederum eine Bejahung. Die Ablehnung einer unzureichenden Liebe umreißt stärker die gewünschte Hingabe.
Nahtlos fließt das Album weiter zum darauffolgenden Song „Another Life“, der sich mit der Kompliziertheit der Liebe auseinandersetzt. Der bereits etablierte Sound der niederländischen Sängerin mit karibischen Wurzeln breitet weiter seinen Radius aus. Die Stimme schwebt durch einen endlosen Klangraum, bis der signifikante Bass Orientierung bietet. Am Ende stehen erneut im Kreise laufende Zeilen im Fokus: „Love is a wicked game, still we play it“ bzw. „Don’t let your love run out“.
Versiegte Romantik
„Myrrh“ beginnt mit einer neuen Klangfarbe. Naomi Sharon besingt eine weitere Facette der Liebe über eine gezupfte Gitarre, die dieses Mal von Anfang rhythmische Struktur bietet. Der Klangraum bleibt allerdings riesig. Eine zurückhaltende Klangatmosphäre und weich gesetzte Delays erschaffen einen Raum zum Träumen. Die besungene nicht erfüllte Liebe wird dabei gekonnt durch die Refrain-Zeile „Kiss like myrrh, sweet perfume, ancient love fills the room“ auf den Punkt gebracht. Das vor langer Zeit für Parfüm verwendete Harz des Myrrhe-Strauchs versprüht einen Geruch, der ebenso an altertümliche Zeiten wie an die versiegte Liaison erinnert.
Drake Summer Mixtape Vibes
Mitte des Albums werden die Tracks tanzbarer. „Time and Trust“ gibt einen ersten Vorgeschmack, ehe der gemeinsame Song „Push“ mit dem nigerianischen Sänger Omah Lay die weichen und emotionalen Töne Sharons mit modernen Afrobeats und Amapiano Einflüssen verbindet. „Holding in Place“ treibt das Tempo weiter an und würde sich neben Songs wie „Get it Together“ oder „Passionsfruit“ nahtlos in das 2017 veröffentlichte Mixtape „More Life“ von Drake einordnen, ein Song, der im Winter Wärme spendet und im Sommer die Karibik nach Hause holt. Es ist kein Zufall, dass die Künstlerin bei Drake’s Label OVO unterschrieben hat. Eine Kollaboration würde nicht nur klanglich Sinn machen und den in Belanglosigkeit ertrinkenden kanadischen Rapper wieder etwas Spannung verleihen. „Extacy“ ist ein weiteres Puzzlestück, das Überschneidung mit Drakes Musikkatalog aufweist: Vocal-Samples, gedämpfte Drums und viel Platz für die Stimme. Und im Mittelpunkt steht erneut eine prägende, sich stets wiederholende Zeile: „It’s so easy to go, it’s so hard to come home“.
Aus den verhallten Träumen in die klare Realität
Auf „Lucid Dreamer“ gewinnt Sades Einfluss auch innerhalb der Produktionen. Funkelnde Keys und in Hall getränkte Percussion begleiten die träumende Stimme Naomi Sharons. Der dazu gehörende Kalenderspruch lautet dieses Mal: „If you’re not there, there’s no luxury worth living“. Dabei verrät der Titel bereits alles. Der Song ist ein Traum von sinnlicher Nähe, der sich so real anfühlt, dass er echt sein könnte. Es bleibt die Frage, was hören wir, wenn wir luzid träumen? Diesen Song!
Das Ende des Albums hält noch eine Überraschung bereit. Der Hall verschwindet aus den Songs und es bleiben bescheidene Gitarren und die im Vergleich zurückhaltend effektierte Stimme. “Regardless” und “Hills” geben aufgrund der klanglichen Zurückhaltung noch mehr preis und fassen die verschiedenen Facetten des Albums zusammen. Die aktuelle Single “Nothing Sweeter” führt den eingeschlagenen Weg weiter und kommt ebenfalls nur mit einer Gitarre aus, deren Akkorde und Melodien kaum schöner sein könnten.
Ein Netz aus roten Fäden
Naomi Sharon zeichnet ihren persönlichen Klang mit besonderer Klarheit. Warme Bässe ergänzen sphärische Flächen und erschaffen neue Dimensionen für eine ewig wachsende Stimme. Zentrales Element der Songs sind dabei immer sich im Refrain und Outro wiederholende Zeilen, die inhaltlich die Essenz des Liedes in sich tragen und als eine Art Mantra die eigenen Gedanken und Gefühle manifestieren. Dass dieses Album, dass sich in aller Ausführlichkeit mit der Liebe und dessen Reflektion beschäftigt, „Obsidian“ heißt, deutet darauf hin, dass der Heilungsprozess während der emotionalen Aufarbeitung im Vordergrund steht.
Naomi Sharon zieht ihren roten Faden nicht nur durch ihre Songs, sondern auch durch ihren in blau & und schwarz gehaltenem Instagram-Feed bis hin zum Albumnamen. Diese besondere Homogenität ist ein Beweis ihrer künstlerischen Fähigkeiten und lässt fast vergessen was die Tracks auf dem Album auch sind: einfach verdammt schöne Songs.
Was noch viel schöner ist, ist Naomi Sharons Konzert in Berlin Anfang April, das allerdings schon ausverkauft ist. Aber wer weiß, vielleicht wird die ein oder andere Karte noch frei.