Zwei Jahre nach seinem Debüt-Album ist Sam Fender zurück mit seinem zweiten Album „Seventeen Going Under“, das sich definitiv als ein würdiger Nachfolger herausstellt. Es ist ein sehr persönliches und verletzliches Album mit vielen Emotionen und autobiografischen Texten. Wie bereits auf seinem Debüt „Hypersonic Missiles“, verarbeitet er auf dem neuen Album seine Kindheit („Getting Started“, „Spit Of You“), mentale Probleme („Paradigms“) und Selbstzweifel („Last To Make It Home“). Auch politische Themen wie Klassismus und die Kluft zwischen Links und Rechts („Aye“) beschäftigen den 27-Jährigen in seinen Songs. Es ist ein Album über Unsicherheiten und das Erwachsenwerden, aber vor allem auch über Selbstfindung. Evelin und Julia haben reingehört und teilen hier nun gemeinsam ihre Gedanken um diese starke LP!
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In diesem Text werden selbstzerstörerische und suizidale Gedanken sowie Mobbing und mentale Probleme thematisiert. Diese Themen können einige Leser:innen beunruhigen. Wenn es dir mit diesen Themen nicht gut geht, bitten wir dich, genau abzuwägen, ob du den Text wirklich lesen möchtest. Auch möchten wir auf die Nummer der Telefonseelsorge hinweisen: 0800 1110111, 0800 1110222.
Seventeen Going Under
Evelin: „Seventeen Going Under“ fühlt sich an wie der perfekte Start in dieses Album, deswegen sicher auch der Albumtitel 😀 Schon, wenn ich die ersten Klänge höre, setzt die Nostalgie sofort ein. Sam schafft es irgendwie, dass man sich, selbst wenn man im tiefsten Deutschland aufgewachsen ist nach der britischen Jugend sehnt. Der Song blickt aber keineswegs mit rosaroter Brille der Teenager-Zeit nach, sondern befasst sich auch mit der toxischen Seite von Kindheitserinnerungen.
Julia: Genau das. Der Song gibt mir ein richtiges Nostaligiegefühl und sobald das Schlagzeug einsetzt, kann ich nicht mehr aufhören mitzuwippen. Textlich wie auch musikalisch ist dieser Song einfach perfekt als Einleitung und kündigt bereits die Zerbrechlichkeit und Emotionalität des Albums an. Und dieses Saxophon…
Getting Started
Evelin: Einer meiner Favourites und auch ein sehr persönlicher Song, was eigentlich sehr untypisch für Sam Fender ist. Normalerweise dreht es sich um die Geschichten anderer, nicht um seine. Er selbst sagt:
“I find it easier to write about other people because I can be completely honest about them. I can’t be honest about myself, because everyone would think I’m a miserable c*nt.”
Aber diese Ehrlichkeit steht ihm gut. Familie ist selten einfach und in „Getting Started“ schafft Sam es, aus einer mehr als schlechten Ausgangslage auszubrechen. Er zeigt, dass man sich manchmal voranstellen muss, um nicht durch die eigene Verantwortung runtergezogen zu werden. Ich fühl den Song und den Inhalt echt mit jeder Pore.
Julia: Dieses Album ist so persönlich und man hat das Gefühl, man lernt Sam Fender ein bisschen besser kennen, was toll ist. „Getting Started“ ist einer der ersten Songs, die er geschrieben hat und vermittelt anhand seiner Dynamik eben auch, dass man nicht aufgeben sollte. Dieses sich selbst auch mal voranstellen, darüber sollte echt gesprochen werden. I like it.
Aye
Evelin: Schon mit den ersten Gitarrenklängen fühlt man Sams Rage. Der Song gibt mir richtige Punk Vibes. Weniger Melodie, dafür sehr viel politische Kritik. Man kann die Frustration geradezu greifen. Der Song pulsiert durch Gefluche und Geschrei vor Energie und Emotion. Ich finde, er spiegelt unsere Verzweiflung mit der Welt momentan 1:1 wider. Genau wie viele von uns, fühlt Fender sich auf missverstanden und nicht von der jetzigen Politik gesehen.
Julia: Das habe ich mir auch direkt gedacht. Der Rage-Mode kommt musikalisch einfach sehr gut rüber. „Aye“ ist quasi der Nachfolger von “Hypersonic Missiles” und “Play God” und behandelt zudem Klassismus aus der Sicht der Arbeiterklasse. Der Refrain verdeutlicht Sams Emotionen mit seiner Eintönigkeit in Sachen Melodie sowie auch Text. Es könnten Protestschreie sein: «Poor, hate the poor, hate the poor, hate the poor […]». „Aye“ ist ein Protestsong, ganz klar.
Get You Down
Evelin: „Get You Down“ lässt mich irgendwie zwiegespalten zurück. Nicht weil ich den Song nicht mag, ganz im Gegenteil! Die Melodie hat im Vergleich zu der aus dem letzten Song einen viel positiveren Touch. Dabei ist das Thema Selbsthass ein ganz und gar nicht Positives. Finde das Thema einfach sehr schwierig und delikat. Zusammen mit den Streichern klingt diese Selbstverachtung schon fast majestätisch, wenn er singt:
“I catch myself in the mirrorSee a pathetic little boy”
Julia: Der Song klingt positiver als er ist, da gebe ich dir recht. Die Streicher geben mir Gänsehaut, vor allem in Hinblick auf das Thema. Es geht um Unsicherheiten und Selbstzweifel, die sehr nah und greifbar sind. Ich finde es wichtig, solche Themen und Gefühle musikalisch darzustellen. Viele können sich damit identifizieren.
Long Way Off
Evelin: Ich glaube, ich habe diesen Song schon gefühlt 3485 Mal hintereinander gehört. Ich bleibe jedes Mal bei „Long Way Off“ hängen und dann wird nur das in Dauerschleife gespielt. Das ist ohne jegliche Zweifel, mein Lieblingssong auf der Platte, wenn nicht sogar in der ganzen Diskografie Fenders. Ich finde hier merkt man richtig extrem, wie gut Sam Fenders Songwriting nach „Hypersonic Missiles“ geworden ist. Der Song ist richtig rund und gibt mir jedes Mal aufs Neue pure Gänsehaut. Mehr will ich auch gar nicht dazu sagen, hört euch den Banger einfach selbst an!
Julia: „Long Way Off“ ist definitiv auch einer meiner liebsten Songs auf diesem Album. Das Intro holt mich schon richtig ab und ich freu mich einfach jedes Mal auf den Song. Die Lyrics von Sam sind grundsätzlich einfach unfassbar gut und sicherlich ein wichtiger Grund für meine Liebe für seine Musik.
Spit Of You
Evelin: So entspannt dieser Song klingt, zeigt sich Sam Fender hier unfassbar verletzlich. Es geht um seinen Vater, der ihn damals aus seinem Haus geschmissen hat. Die Vergangenheit und auch die Gegenwart schmerzt ihn, aber gleichzeitig weiß er, dass er seinen Vater nie einfach so loslassen kann. Ein traurig schöner Song über das Verhältnis von Vater zu Sohn, der melodisch sehr viel entspannter klingt als die Beziehung selbst.
Julia: Ich finde „Spit Of You“ einfach musikalisch unglaublich schön. Auch das Thema des Songs berührt mich jedes mal so krass, bekomme immer Gänsehaut bei dem Song. (Und das Saxophon wieder, uff). Es geht zudem darum, dass sich Sam selbst sehr in seinem Vater wiedererkennt und damit auch die fehlende Fähigkeit zu kommunizieren oder Emotionen zu zeigen, meint. Sam bezeichnet den Song übrigens als Liebeserklärung an seinen Vater.
Last To Make It Home
Evelin: Ach was sind Balladen nicht schön. Ich seh’ schon Tausende von Menschen mit Feuerzeugen zu „Last To Make It Home“ das Stadion erleuchten lassen. Ich kann mich nicht so recht einigen, was die Message des Songs genau ist. Ist es Kritik am Glauben, Kritik an oder Zynismus gegenüber der eigenen Existenz oder alles zugleich? Ich weiß nicht so recht, aber umso schöner macht das den Song. Also Augen zu und genießen.
Julia: Hier bekomme ich auch immer Gänsehaut, vielleicht kann ich das einfach bei jedem Song hinzufügen. In „Last To Make It Home“ geht es um Frustration und den Gedanken, nicht gut genug zu sein. Der Song klingt sehr sehnsüchtig, vor allem mit den Streichern im Hintergrund.
The Leveller
Evelin: Okay, nach der Ballade ist jetzt wieder Zeit für ein bisschen Action. „The Leveller“ verzeiht musikalisch wie lyrisch nichts. Fender lässt kein Blatt vor dem Mund, macht er sowieso nie. Und der Song trifft die Emotionen der Jugend, besonders der in der UK auf den Punkt.
“As little England rips itself to piecesBuried my grandma along with her world
And this twisted mutation is where I reside”
Sag ich ja, kein Blatt vorm Mund. Auch musikalisch wird die Message durch den extrem starken Refrain unterstützt (erinnert mich leicht an Songs von The Pale White). In der ganzen Wut gibt Sam aber Hoffnung und ermutigt, das hier als Wendepunkt hin zu besseren Zeiten zu sehen.
Julia: „The Leveller“ klingt wie eine Kampfansage. Die vorantreibenden Drums und die Gitarre bringen keine Ruhe in den Song. Es fühlt sich an, als würde man rennen und nicht zum stehen kommen. Als würde Sam nicht zum atmen kommen. Zum Ende hin hört sich die Gitarre sogar schmerzverzerrt an. Er klingt zwar wütend, gleichzeitig bringt der Song aber Ermutigung im Refrain mit sich. Mag ich.
Mantra
Evelin: Muss ehrlich sagen, dass der Song mich musikalisch nicht vom Hocker haut und eher ein Filler-Song für mich ist. Nichtsdestotrotz ist das Thema natürlich wieder mehr als relevant. Sam singt über den Struggle, den besonders junge Leute und auch er mit Selbstzweifel und dem Drang, anderen zu gefallen, haben. Aber das wir doch alle oft dasselbe durchmachen, es nicht einfach ist, aber wir es immer wieder von Neuem versuchen sollten. Und irgendwie passt die musikalische Aufmachung dann doch irgendwie. Wisst ihr, in dem Stil dieser manifestations auf TikTok…ja ich bin eindeutig in dem Astrology Loch auf TikTok gelandet.
Julia: „Mantra“ ist tatsächlich einer meiner Lieblingssongs auf dem Album. Gerade die ersten Verse in der ersten Strophe finde ich ziemlich eindrücklich.
„Please stop tryin‘ to impress people who don’t care about you, I repeat as a mantra.„
Ich mag die Message des Songs sehr gerne. Das eigene Selbstwertgefühl sollte man nicht daran festmachen. Ich glaube, diesen Struggle kennen viele. Musikalisch lässt mich der Song immer ein bisschen runterkommen. Er klingt wie ein lauer Sommerabend. Und dann kommt zum Ende hin das lange musikalische Outro mit der Brass-Sektion, ich liebe es.
Paradigms
Evelin: „Paradigms“ ist eine Art Erklärung zum Song davor. Der Song beantwortet die Frage, woher alle diese Selbstzweifel stammen. Als ich durch das Album gehört hab, mir die Lyrics durchgelesen hat, ist mir gerade an dieser Stelle aufgefallen, wie viel Trauer und Verzweiflung in diesem jungen Mann eigentlich steckt. Ich kam auch gar nicht drum rum, mir ernsthafte Sorgen zu machen. Es scheint, als würde Sam sich nicht nur mit seinen eigenen Problemen befassen, sondern er nimmt sich die Probleme eines jeden auf die eigene Kappe.
Julia: Das ist er, mein liebster Song auf dem Album. Für Sam ist „Paradigms“ thematisch eine Zusammenfassung von “Seventeen Going Under”. Die Drums geben dem Song eine unfassbare Energie. Musikalisch wirkt er sehr positiv und stark. Achtet man auf die Lyrics, bekommt man zu Beginn eher das Gefühl von Verzweiflung. Der Chor am Ende gibt mir wirklich jedes Mal Gänsehaut, wenn in der Bridge gesungen wird: «No one should feel like this.» Der Song arbeitet quasi auf diesen einen Vers hin und findet in ihm seinen Höhepunkt. Mir ging es allerdings ähnlich wie Evelin. Es tat mir teilweise weh, dieses Album zu hören und den Schmerz und die Verzweiflung von Sam zu fühlen.
The Dying Light
Evelin: Zum Ende des Albums hin fühl’ ich mich mittlerweile richtig down. Es wird viel Schweres in dem Album thematisiert, soziale wie persönliche Themen. Aber diese Themen müssen auch ihren Raum haben. Genauso wie der letzte reguläre Song auf dem Album. „The Dying Light“ wird dominiert durch Klavierklänge und führt durch die alten Straßen von North Shields. Alles wirkt genau wie immer, nichts hat sich verändert. Doch dann wird der Himmel etwas heller in der Heimatstadt von Sam Fender: musikalisch wie textlich. Sam erkennt, dass er das alles nicht alleine durchstehen muss, sondern nach Hilfe fragen kann und sollte. Eine wirklich wertvolle Message zum Ende eines genauso wertvollen und tollen Albums hin.
Julia: Diese Klavier-Ballade am Ende des Albums ist ein schöner, aber auch schwerer Abschluss. „The Dying Light“ wirkt wie eine Weiterführung des Songs „Dead Boys“ von Sam, die sich allerdings viel mehr auf den Weg hin zur Hilfe und zur Therapie fokussiert. Ab der zweiten Strophe ist von der ruhigen Klavier-Ballade nicht mehr viel übrig. Gitarre und Drums kommen hinzu und bauen Spannung auf. Der Song schenkt Hoffnung und findet mit seinem Outro eine musikalische Krönung. Nach dem Hören musste ich erstmal tief durchatmen. „The Dying Light“ hat mich einfach berührt.
Fazit
„Seventeen Going Under“ ist ein sehr persönliches, ehrliches, aber auch schmerzvolles Album. Sam Fender spricht über seine Kindheit, die politische Lage in England und die Auswirkungen von Selbstzweifeln, dem Erwachsenwerden und Depressionen. Man merkt, dass Sam sich auf diesem Album wortwörtlich alles von der Seele spricht. Musikalisch übertrifft er sich wieder aufs Neue. Neben dem Saxophon sind die Songs von Streichern und Sams typischen E-Gitarren Sound umgeben – beim Hören besteht konsequent Gänsehaut-Potenzial.
Fotocredits: Charlotte Patmore und Jack Whitefield