Kennt ihr das Gefühl, wenn ihr sehr, sehr aufgeregt seid, und ganz viel zu sagen habt, aber nicht wisst, wo ihr anfangen sollt? Wie soll man dieses Gefühl, diese pure Aufregung, die wahrscheinlich sowieso niemand anderes versteht, in verständliche Worte ausdrücken, die einen nicht solche Blicke einfangen lässt? Jede Person, die schon mal als „Fangirl“ abgestempelt wurde (hi!) kennt dieses Gefühl. Eigentlich sind es mehrere Gefühle, die sich, wenn man sie nicht ordentlich zerlegt und für andere zugänglich erklärt, nur zu einem einzigen innerlichen Schrei bündeln. Wenn ihr so einen Schrei auf einem Konzert neben euch hört, wisst ihr: „ah… fangirl.“ *inserts side-eye meme*
Jedenfalls, dieses schreiende Fangirl, das bin ich. Manchmal. Ich bin noch immer riesengroßer Fan von wirklich ganz vielen unglaublich begabten Künstler*innen, aber ich schrei mit Abstand nicht mehr so viel wie früher. Was mich aber auch mit 26 noch so richtig zum Schreien kriegt, sind albenübergreifende Geschichten, die in Musik, Texten und Musikvideos erzählt werden, so stimmig und voller Eastereggs sind, die man nur versteht, wenn man die Story schon seit 3 Alben verfolgt hat. Ja, man wird nerdig wenn man alt wird. Vielleicht haben ein paar von euch schon mal meinen Twenty One Pilots Deep Dive gelesen – das war ein sich über 4 Artikel streckender Fangirl-Schrei meinerseits. Vielleicht auch eher ein sehr befriedigendes Stöhnen als ein Schrei. Je nachdem wie ihr euch das vorstellen wollt. Gestern Abend jedenfalls, als das Musikvideo zu NF’s neuem Song „Hope“ erschienen ist, da hab ich wieder geschrien. Und gestöhnt. Alleine, vor meinem Fernseher (weil da guckt man geile Musikvideos drauf!), stand ich 5 Minuten lang mit Händen vor dem Mund und hab nicht fassen können, was ich da sehe. Und seitdem bin ich aufgeregt. Und warum, versuch ich euch jetzt zu erklären.
Is it NF or his fear talking?
Um die erste Frage aber vorab zu klären: wer ist NF? Klingt nicht nach einem Bandnamen für eine Indie-Band und ist auch keiner. NF macht Rap, aber Leute – wirklich guten Rap. Seine letzten beiden Alben gingen Platin in den USA und ließen ihn ganze Arenen ausfüllen während er aber trotzdem der mentally unstable underdog geblieben ist, in schwarzen Klamotten, Cap immer tief im Gesicht. In Deutschland hörte man bis auf seine Single „Let You Down“ (2017) relativ wenig von ihm – konnte ich zwar noch nie nachvollziehen, lässt mir aber auch die „I was here before he was famous“-Illusion. Sein letztes Album The Search kam 2019 raus, mit der relativ zügigen Ankündigung, dass ein neues Album noch ein wenig dauern würde. 2021 kam dann, als Überbrückung sozusagen, sein Mixtape CLOUDS, welches ich hier sehr begeistert resenziert hab. Seitdem warte ich geduldig und schaue seiner Frau auf Instagram zu wie ihr eineinhalb Jahre alter Sohn in ihrer Mansion (Wortwitz, erklär ich später) langsam und glücklich heranwächst. NF ist jetzt nämlich Vater. Und das hat vieles für ihn verändert – zum Glück.
Doch fangen wir am Anfang an. 2015 hat NF sein Debütalbum Mansion veröffentlicht, auf das er all seine Gedanken und Emotionen in einzelnen Räumen beschreibt. Ob Angst, Wut, Trauer, der Tod seiner Mutter durch Drogen, Selbstzweifel oder das Bedürfnis nicht mehr auf der Welt zu sein – alles darke Themen, mit denen er sich sein ganzes Leben lang beschäftigt und in Mansion ein metaphorisches Zuhause gegeben hat. Seitdem versucht er sich Stück für Stück, Album für Album, aus diesem depressiven Loch herauszuarbeiten. Alle, die schonmal in so einem Loch waren, wissen: das ist nicht einfach. Und je schwerer die Depression ist, desto schwieriger ist es, Hoffnung zu finden und da rauszukommen. Wie NF das in seinen Songs verarbeitet, ist so brutal ehrlich, dass ich mir seit 8 Jahren auch wirklich Sorgen mache. Es ist aber auch der Grund dafür, warum seine Musik so viel Anklang findet und eine so große und tiefe Fanbeziehung zu Menschen auf der ganzen Welt geschaffen hat.
In seinem Nachfolgeralbum Therapy Session startet er den Versuch, direkt mit seinen Ängsten zu sprechen und personifiziert seine Emotionen. All das passiert in dem Setting der Mansion aus seinem Debütalbum, was auch auf seinem dritten Album, Perception, direkt auf dem „Intro III“ aufgegriffen wird. Doch anstatt über sie zu rappen, übernimmt Fear hier selbst das Mikro und Nate verliert mehr und mehr an Kontrolle – sein mental health is clearly declining. Musikalisch ist das eine in sich aufgebaute Theatralik, die eindeutig zu NFs Erkennungsmerkmalen gehört. Jeder Song trägt so viel Power in sich, die sich spätestens im letzten Drittel des Songs so entlädt, dass ich tagelang Gänsehaut bekomme wenn ich nur daran denke. Lyrisch… lest selbst:
„You told me that you don’t want me in your life, that’s pretty hard to digest
And I told you I’d leave when we die, and we ain’t died yet
Therapy Session was beautiful, Nate, but I’m wonderin‘ what’s comin‘ next
Yeah, get that stupid hat off of your head when I’m talkin‘ to you, you hear what I said?
You don’t like the prison I built you?
Yeah, you wanna know what the funny thing is?
You keep on talkin‘ to me like a stranger
But we’ve been together since you were a kid“
Wir alle verbringen unser gesamtes Leben mit unseren Gedanken und wenn wir nicht die Kontrolle darüber haben, wie wir diese gestalten, gewinnen schnell die negativen, gemeinen und selbstverletztenden Gedanken Oberhand. NF hadert damit sehr viel, und vor allem in Perception wird klar, dass nicht er, sondern seine Fear die Kontrolle über seine Gedanken hat – deutlich zu sehen auf dem Albumcover, in dem Nate (NFs bürgerlicher Name) im Käfig steht, Schlüssel in der Hand, aber nicht fähig sich selbst zu befreien.
„I’m lookin‘ for the map to hope, you seen it?“
Nach dem weltweiten Erfolg von Perception wird’s allerdings noch ein wenig dunkler um NF, er hadert sehr viel mit dem Ruhm und seinen Depressionen, und verarbeitet das in dem Nachfolgeralbum The Search, welches mit dem gleichnamigen Introtrack 2019 angekündigt wurde:
Hier im Hintergrund zu sehen: der Käfig aus Perception. NF hat’s rausgeschafft, aber nicht ohne Fear und seine restlichen Zweifel. Portraitriert durch schwarze Ballons, die er auf jedem Schritt mit sich mittragen muss, befindet sich Nate nun auf der Suche nach Hoffnung. Inhaltlich ist das Album immer noch sehr deep, Tracks wie I Hate Myself , Let Me Go oder Trauma zeigen, dass so viele Hallen er auch füllt und es geschafft hat, seine Musik zu einem erfolgreichen Beruf zu machen, er immer noch keinen Weg raus gefunden und Fear ihn weiterhin im Griff hat. Es ist aber gleichzeitig ein Album, auf dem ganz deutlich sein Drang zu spüren ist, Oberhand über seine Ängste und Zweifel zu gewinnen, nur noch nicht weiß, wie. Ich hab’s euch oben verlinkt, schaut euch das Musikvideo an und lasst das einfach auf euch wirken.
Dann – zwei Jahre Pause. 2021 kam dann NFs Mixtape CLOUDS mit ausproduzierten Demos, die er herumliegenhatte, als Überbrückung. Hier hab ich schon mal meine entgeisterte Begeisterung darüber niedergeschrieben, weil es wirklich nicht normal ist, was hier an musikalischem und künstlerischem Talent unter dem Radar der meisten noch verborgen liegt.
Forward to – Donnerstagabend im tristen Februar und der Drop dieses Musikvideos hier, das mich meinen innerlichen Fangirl-Schrei wiederfinden lassen hat. Mit all dem, was ich euch gerade so ausführlich (liest das hier noch jemand? hi!) an Hintergrundwissen gegeben hab, müsstet ihr jetzt eigentlich auch ein wenig schreien:
Es fängt ja schon damit an, dass NF das erste Mal sei 8 Jahren weiße Klamotten trägt. Weiß! Wie die Hoffnung! Er sitzt auf einem Floß und treibt im offenen Meer umher und schnell wird klar – Fear hat nicht mehr das Mikro in der Hand. „It’s time to give the people something different, so without further ado, I’d like to introduce my album (my album), my album (my album), my album (my album)“. Das ist das erste Mal, dass mir ein Schauer über den Rücken gelaufen ist. Aus dem off reingeschrien und übereinander gelegt zu hören ist Fear, das frühere personifizierte Alter Ego NFs, das dann doch nicht ganz locker lassen will. Doch es ist eine neue Ära, Hope ist nicht mehr lost at sea (get it?) sondern auf der Insel angekommen und bereit, bisschen was in die Hand zu nehmen, nachdem NF so lange nach ihr gesucht hat.
Direkt im nächsten Shot hat NF eine Karte in der Hand, ihr erinnert euch: „I’m lookin‘ for the map to hope, you seen it?“ (The Search) – hier hab ich das zweite Mal gestöhnt. Er hat sie gefunden. Mit der Karte begibt er sich nun auf die Suche, ist sich augenscheinlich nicht ganz klar, wo es hin geht. Immer mal wieder taucht Nate in schwarz gekleidet auf – als Fear – und weist ihn in die falsche Richtung. Ist nicht einfach der Weg aus dem eigenen Kopf, wenn dieser jahrelang voller negativer und angsterfüllter Gedanken war.
Und dann, gerade als er in seinem reflektierten Flow über seine Gefühlswelt der letzten Jahre steckt, kommt Fear mit einem aggressiven „They get it!“ von hinten und stößt ihn nach vorne. Er knallt auf die Erde und fällt, in einem Filmschnitt, der mir den Atem stocken ließ, durch die Decke eines Hauses. Es ist still. Die Karte zur Hoffnung schwebt langsam zu Boden und dann erklingt wie ein weit entferntes Echo der gesungene Refrain von Mansion. Da hab ich geschrien. Einfach diese Präzision, ihn in sein eigenes Gedankengefängnis fallen zu lassen, das er 2015 mit genau diesem Song und diesem Album geschaffen hat und das auch noch musikalisch so anzuspielen- Full circle. Ich bin immer noch sprachlos.
Nach dem Break bekommt der Song musikalisch einen sehr nicen Beat verpasst und wir bekommen eine Tour durch eben jene Mansion. Hinter jeder Tür, die NF gekleidet als Hope nun öffnet, verbirgt sich ein Raum VOLLER EASTEREGGS. Es tut mir leid, aber ahh, die Aufregung! In einem Raum sitzt Nate mit hunderten schwarzer Luftballons, die in The Search und PAID MY DUES Metapher all seiner mentaler Lasten waren. In dem anderen Raum sitzt eine deutlich gealterte Version von Nate in seinem Käfig aus Perception, immer noch unfähig auszubrechen. Dann sind da überall noch die lyrischen Eastereggs, Verweise auf alte Songs, wiederhervorgeholt und umgedreht, wirklich, I am living for this shit.
Nachdem er die zweite Tür schließt, tritt er zwei Schritte zurück, bekommt aus dem Nichts einen Sack über dem Kopf gezogen und alles ist kurz dunkel. Der Beat ist auch weg, stattdessen erklingt ein vergleichsweise ruhiges Piano und NF rappt über seinen neugeborenen Sohn auf der Bergspitze, zurück auf der Insel. Was ist das auch für Analogie! Am absoluten Tiefpunkt hat ihn die Geburt seines Sohnes gerettet, ihn aus der zwielichtigen Mansion herausgeholt und wieder ans Licht gebracht:
„Having kids will make you really take a step back and look in the mirror
At least for me, that’s what it did, I
Wake up every day and pick my son up
Hold him in my arms and let him know he’s loved (Loved)
Standing by the window, questioning if dad is ever going to show up (Up)
Isn’t something he’s goin‘ to have to worry ‚bout
Don’t get it twisted, that wasn’t a shot
Mama, I forgive you
I just don’t want him to grow up thinkin‘ that he’ll never be enough„
Auch hier bin ich ehrlich, bei „Mama, I forgive you“ ist mir die Träne dann runtergeflossen, die sich die ganze Zeit aufgestaut hat. Wenn ihr Songs wie „How Could You Leave Us“ aus Therapy Session hört, in denen er so viel Wut über die verhängnisvolle Drogensucht seiner Mutter versucht hat zu verarbeiten, wisst ihr, wie viel schwerer der ganze Part wiegt.
Emotional bin ich hier also schon völlig bedient, doch es ist kein NF Song, wenn’s am Ende nicht nochmal richtig knallt. Hope tritt in direkten Streitdialog mit Fear und wow – das ist fast schon gruselig, sowohl im Musikvideo als auch musikalisch, wie sehr sich der ganze Song hier zuspitzt. Es wird laut, es wird ein wenig verstörend, es wird sehr intensiv – ich hab mir das mittlerweile schon um die 20 Mal angeguckt und gehört und komm immer noch nicht wirklich drauf klar. Alle Reaction-Videos auf YouTube sind ab diesem Part still, weil alle fassungslos sind über das, was sie da gerade zum ersten Mal erleben. Wenn ihr euch das anguckt, sollte auch euch die Gänsehaut über die nächsten paar Tage tragen. Es ist wirklich einfach fast schon krank, wie gut dieser Song ist!
Ich hab bei 20 Mal anhören dann auch mal für euch gezählt und es gibt im ganzen Song 7 musikalische Parts. 7 Parts, in denen NF seinen Flow ändert, lauter wird, leiser wird, dann diese STREICHER, die eigentlich in Moviescores gehören, dann wieder nur ein Piano, das sich zum finalen Part wieder in diesen Klimax aufbaut und so intensiv wird, dass ich immer noch keine Worte für finde. Der intensive Showdown endet abrupt mit der Zeile „I’m taking the reins“, was auch wieder so ein full circle moment ist zu den aus dem vorherigen Album stammenden Zeilen „I’d love to pack arenas and all, but what I really wanna do is learn to handly my thoughts, and put the reins on ‚em, show ‚em I’m the one that’s the boss“ (LOST). Wenn ihr euch also fragt, „wieso schreibt sie so einen ellenlangen Artikel über diesen Typen, von dem ich noch nie gehört hab?“, dann ist das, wieso.
Wenn ich es geschafft habe, euch bis hier nicht zu verlieren, und sogar noch mehr, euch von sowohl NF als auch diesem neuen Song zu überzeugen, dann freu ich mich! Es war schwer und hat lang gedauert mich bis hierhin vorzuarbeiten, aber wenigstens ist mein innerlicher Schrei voller Fangirl-Aufregung ein wenig kompensiert worden. Und für sowas gründet man doch ein Musikmagazin, oder?
Wer jetzt richtig hooked ist, kann sich hier in NFs restlicher Diskografie verlieren. Habt Spaß und passt auf euch auf!