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Initiative Cock am Ring: Gibt es noch Hoffnung für das traditionsreiche Rockfestival?

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Wir schreiben das Jahr 2022 und es ist Pride Month. Ganz Gallien hat die Regenbogenflagge gehisst, sogar die alten weißen Männer in ihren Chefetagen entstauben feierlich die Wimpel auf ihren Cocobolo-Schreibtischen und spielen uns wenigstens die nächsten 30 Tage ganz fortschrittliche Lebewesen vor. Ganz Gallien? Hm, nee. Denn da ist ja auch noch Rock am Ring.

Im Musikbusiness sieht es leider noch schlechter aus, als in so manchen milliardenschweren Wirtschaftsunternehmen, die verstanden haben, dass diverse und feministische Inhalte zur Zeit wenigstens ein guter PR-Gag sind. Solch gigantische Festivals wie Rock am Ring oder Rock im Park stehen zwar schon jahrelang in der Kritik, weil in den Line-Ups FLINTA+ Artists noch nie angemessen vertreten waren, passiert ist allerdings nichts. Jucket.

Darauf angesprochen sagt der Chef der Rock am Ring-Veranstalterfirma DreamHaus, Matt Schwarz: “Wir haben zentrale Bereiche und Führungspositionen bei Rock am Ring weiblich besetzt, von der Veranstaltungs- und Festivalleitung, Ticketing-, Marketing- und PR-Leitung über das komplette Festivalproduktionsbüro, das Akkreditierungsteam und diverse Produktionsleiterinnen der einzelnen Bühnen. Wir werden dieses Thema also in Zukunft weiter maßgeblich priorisieren und haben damit in den laufenden Programmplanungen für das kommende Jahr bereits begonnen.” Klar sei jedoch auch, “dass ein Festival Diversität nicht alleine umsetzen kann”. Nötig sei dafür das strukturelle Handeln aller Mitspieler*innen wie etwa der Plattenfirmen, Bandmanagements und auch der Medien.

Also zuerst: Es ist super, dass FLINTA+ in den vielen Bereichen des Festivals eingebunden werden, wobei das im Jahr 2022 auch ehrlicherweise absolut kein Punkt mehr ist, für den man besonderes Lob erwarten sollte. Nichtsdestotrotz ändert das nichts daran, dass das Booking bei Rock am Ring und Rock im Park in den letzten 10 Jahren aus durchschnittlich gerade einmal 4 % FLINTA+ bestand. Dass man da leider nichts tun könne und dass es nur ein Abbild der Realität sei, ist eine wirklich schwache Begründung. Wer genau ist nochmal für das Booking verantwortlich? Wenn trotz aller Kritik die immer gleichen männlichen Bands auf den Bühnen stehen, dann ist das schon etwas, wo man mal was tun könnte. Nicht nur, dass FLINTA+-Personen und -Bands unter dem Deckmantel, es würde ja kaum welche geben, von Rock am Ring quasi ausgeschlossen werden. Man verhindert für diese Gruppe wichtige Chancen. Man verweigert ihnen ein Sprungbrett. FLINTA+ wird also auf der einen Seite gesagt, sie haben keine Bühnenerfahrung und können deshalb nicht spielen, auf der anderen Seite gibt man ihnen aber keinen Space, um eben diese Erfahrung zu sammeln. Merkste selber.


Cock am Ring gegen Lippenbekenntnisse

Zahlen, Statistiken und Fakten wurden pünktlich zum Start des RaR/RiP-Wochenendes endlich mal gebündelt und kanalisiert. Jetzt könnte der Grundstein für Veränderung in die Steinschleuder gespannt worden sein, denn die frisch aufgestellte Initiative Cock am Ring prangert die Ignoranz im Booking von Rock am Ring jetzt öffentlich an. Unter der Schirmherrschaft von Kulturstaatsministerin Claudia Roth veröffentlichte die Initiative nicht nur umfassende Informationen über die Unsichtbarkeit von FLINTA+-Personen in Festival-Line-Ups, sondern gleich noch einen tollen Sampler dazu. Auf diesem Sampler covern 24 Bands mit FLINTA+-Anteil die Songs jener Männerbands, die dieses Jahr bei Rock am Ring gebucht wurden.

Und der bittersüße Coup: Die Einnahmen durch die Streams der Coverversionen gehen nicht an die Künstler*innen, weil sie vollständig an das für die Organisation von Rock am Ring verantwortliche Unternehmen DreamHaus gespendet werden. Dazu meint Cock am Ring: “Mit dem Geld können sie [DreamHaus] sich dann hoffentlich für Rock am Ring 2023 etwas mehr diverse Beteiligung leisten. Unser Team arbeitet dabei übrigens ehrenamtlich und aus schierem Idealismus. Wir stehen für Vielfalt und Diversität − und wünschen uns das auch auf den Bühnen dieser Welt.” Das ist der erste Treffer ins Auge und ein kluger Schachzug, der DreamHaus ganz schön alt aussehen lässt.

Der zweite Treffer (und damit ganz ehrlich k.o.) sind die wirklich tollen und allesamt hörenswerten Neuinterpretationen auf dem Cock am Ring-Sampler. Im Grunde zeigen uns die FLINTA+-Artists hier, worauf es hauptsächlich ankommt. Nämlich Perspektiven zu verschieben und blind spots sichtbar zu machen. Diese Compilation schafft das alleine durch die Songauswahl im Kontext der, wir müssen es so sagen, Diskriminierung von FLINTA+.

Wir stellen euch unsere vier Highlights hier vor:


Kochkraft durch KMA – “Mein schöner Hodensack” (Die Kassierer)

Wie könnte ein solcher Sampler passender beginnen, als mit den buchstäblichen Kronjuwelen des Patriarchats? Dem höchstwahrscheinlich einzigen Grund für diese Missstände? “Mein schöner Hodensack” der Punk-Urgesteine Die Kassierer ist sicherlich nie 100% ernst gemeint gewesen (wobei?), allerdings spielt das Licht, in dem ein solcher Song steht, eine entscheidende Rolle. Grölen diesen Song 25.000 besoffene Männer vor der Bühne bei Rock am Ring, hinterlässt das halt einfach ein Geschmäckle. Performt diesen Song allerdings Mitinitiatorin Lana Giese mit ihrer klanggewaltigen Electro-Punk Band Kochkraft durch KMA, ist er am Ende vor allem eines: bloßstellend. Jeder Mann im Line-Up sollte sich bei diesen Zeilen doch einmal kurz an die eigene Nase fassen und diese Worte auf sich wirken lassen. “Ich habe kein besonderes Talent, bin eher etwas inkompetent” ist spätestens ab jetzt kein Augenzwinkern mehr. Es ist Fakt.


ELL – “Let Me In“ (Beatsteaks)

Was ELL aus dem 2002 von den Beatsteaks veröffentlichten „Let Me In“ gemacht haben, spricht eigentlich schon ganz allein für sich. Das selbsternannte Krach-Pop-Duo hat den im Original auf Englisch geschriebenen Song ins Deutsche übersetzt – und auch, wenn der Inhalt des Songs gar nicht verändert werden musste, gibt es ihm in dem hier zu interpretierenden Sampler-Zusammenhang fast schon einen ikonischen Hymnen-Charakter. Denn alles, was ELL und ihre Kolleg*innen wollen, ist genauso wie ihre männlichen Kollegen auf die großen Bühnen des Landes gelassen werden. Sie verstehen (zu Recht!) nicht, warum man sie nicht sieht – oder sehen will. Eingehüllt von lauten Gitarren und Drums kommt in diesem Song die jahrelang angestaute Wut in ihrer vollen Pracht zur Geltung.


Wenn einer lügt dann Wir – “Bayern” (Die Toten Hosen)

Sehr gelungen auf dem Sampler sind die Ebenen, die die Texte der Coversongs gewinnen. Gerade bei Texten von den Kassierern oder hier von den Toten Hosen, die sich auch sowieso schon selbst so ironisch und mega lustig finden, gibt die Neuinterpretation den eigentlichen Twist. Auch bei der Version von “Bayern” der Punkband Wenn einer lügt dann Wir, die die Aktion zusammen mit ihrem Label Ladies & Ladys co-initiieren. Nur begleitet von E-Gitarre und sanften Basstönen, wirken die Lyrics einmal mehr wie hohle Phrasen. Die einzige Bedeutung verleiht diesen dann glücklicherweise die Autotune-Performance von Sängerin JK, durch die die nächste große Männerdomäne, Fußball, ebenfalls vorgeführt wird. Dieser Song war noch nie gut, jetzt ist er es.


Mina Richman – “Red Flag“ (Billy Talent)

Eine Band, die ungefähr schon 1 Mio. Mal bei Rock am Ring gespielt hat, ist Billy Talent. Und ihr Song „Red Flag“ ist einer, den wir in unserer Jugend fast alle zu Tode gehört haben. Fair enough, guter Song. Mina Richman hat daraus eine ruhigere, soulige und reggae-angehauchte Nummer gemacht und rückt den Song damit in ein emotionales Licht: Egal wie unbedeutend deine Stimme auf dich wirken mag, sie wird etwas verändern. Hör niemals auf damit laut zu sein. Und Mina Richman macht einmal mehr sehr einnehmend darauf aufmerksam, dass es mehr als an der Zeit ist, sich von dem loszumachen, was vielleicht am einfachsten und angenehmsten scheint, das eigentliche Riesenkackproblem damit aber nicht einmal im Ansatz bekämpft. Immer wieder wirklich bemerkenswert, was Musik so kann.


Ohne Diversität kein safe space

Wie wird es jetzt weitergehen? Rock am Ring ist in jedem Fall auf dem sicheren Weg, vielleicht nächstes Jahr schon einer grenzüberschreitenden Massenkirmes, einem Volksfest of Doom, in nichts mehr nachzustehen. Vielleicht kostet dann die Maß auch dort 14 Euro. Da hätte selbst die breite Masse einen Grund, sich über etwas zu beschweren! Leider dürfte die Wahrscheinlichkeit, dass die Bierpreise um 10 % sinken, höher sein, als dass die FLINTA+ Acts um 10 % ansteigen.

Eine weitreichende Folge des schlechten Bookings: Auch für FLINTA+ im Publikum kann kein safe space geschaffen werden, wenn das Line-Up diese nicht verkörpern kann. Hinzu kommt nämlich, dass die meisten der gebuchten Bands bei Rock am Ring mit ihrer Attitüde schon auf eine bestimmte Sorte Männer abzielen. Die Sorte, die sich hemmungslos besäuft und dann, ups, auch mal die Hände nicht bei sich lassen kann. Sehen können wir das tatsächlich auch schon, obwohl wir uns gar nicht auf dem Festivalgelände befinden. Die hässlichen Kommentare unter dem Twitter-Post unserer Redakteurin Dascha beweisen es.

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Doch, sollten wir wirklich versuchen, Rock am Ring zu bekehren? Offensichtlich ist die Kritik der letzten Jahre angekommen. Offensichtlich wurde aber auch nichts verbessert, während ein paar andere Festivals mit offenen Karten spielen und ihre Line-Ups sichtlich diverser gestaltet haben. Müssen wir als Konsument*innen dann davon ausgehen, dass FLINTA+ auch im Publikum nicht erwünscht sind? Am Ende ist das leider ein Grund, dieses Festival einfach lieber zu canceln und zu boykottieren, wie wir es ja auch zum Beispiel mit Rechtsrock-Festivals machen würden. Denn wir sehen da in puncto Toleranz, um ehrlich zu sein, keinen Unterschied mehr.

Wir müssen und wollen an dieser Stelle aber noch einen Deckanstoß geben: Es gibt im Line Up weit oben stehend Künstler, die sich sehr für die Sichtbarkeit von FLINTA+ einsetzen, die bedacht FLINTA+-Personen und -Bands als Supportacts auf ihre Touren mitnehmen oder diese auf vielen verschiedenen Wegen unterstützen und sichtbar machen. Künstler, die eine große Reichweite haben und mit nicht allzu viel Aufwand einen Teil dazu beitragen könnten, dass Geschlechtergerechtigkeit auch auf den großen Festivalbühnen ankommt. Warum seid ihr hier so ruhig? Wo ist euer supportive spirit hin, wenn es um Rock am Ring geht? Ihr seid damit ebenso Teil genau des Problems, das ihr das restliche Jahr über kritisiert. Niemand verlangt, dass Festival-Gigs abgesagt oder Anfragen abgelehnt werden. Aber wir sind uns sicher, es gibt Wege, die für euch gangbar sind und mit denen ihr weder eure Ansichten über Bord werfen, noch Auftritte absagen/ablehnen müsst und trotzdem für FLINTA+ einsteht.


Wer sich noch ein bisschen mehr mit Cock am Ring beschäftigen möchte, kann das hier tun.

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Autor*innen dieses Artikels: Jule & Lukas
Artwork: Janika Streblow

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