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Even in Arcadia: Sleep Tokens bisher persönlichstes Werk

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Fast anderthalb Jahre ist es her, seit ich das letzte Mal meine Gedanken über Musik für untoldency niedergeschrieben habe. Und beinahe zwei Jahre ist es her, dass eine mir damals noch völlig unbekannte Band mein Leben im Sturm erobert hat: Sleep Token. Seitdem sind sie nicht mehr aus meinem Alltag wegzudenken. Umso schöner, dass ich jetzt meine ungefilterten Gedanken zur neuen Platte „Even in Arcadia“ teilen darf.

Meine Obsession verdanke ich einer langjährigen Freundschaft, die einst im Fangirling über Post-Hardcore-Bands begann und heute in reflektierte Wertschätzung für Musik gewechselt ist. Sind wir nicht alle froh, dass wir nicht mehr 16 sind! Auf ihre Empfehlung hin hörte ich – halb verschlafen im Zug Richtung Arbeit – zum ersten Mal The Summoning. Ich hatte keine Erwartungen, nur Kopfhörer im Ohr, und wurde bei den ersten Drums direkt überrannt. Vielleicht etwas früh am Morgen… aber seitdem machen Sleep Token etwa 80 % meines Spotify-Verbrauchs aus – siehe Beweisstück A.

Sleep Token 101: Zwischen Musik und Mythos

An wem Sleep Token vorbeigegangen ist, kurzer Umriss: Es handelt sich um eine anonyme Band, die maskiert auftritt und aus 4 Briten besteht, die sich Vessel, II, III, IV nennen. Sleep Tokens Musik lässt sich nicht wirklich festlegen, denn sie ist genrelos. Zwischen herzzerreißenden Balladen finden sich brutale Breakdowns, Rap-Verses bis hin zu Trip-Hops-Beats. Ein Klangspektrum, das überrascht – aber immer punktet.

Neben unerwarteten Sounds dreht es sich lyrisch nicht um banale alltägliche Sorgen, sondern um eine mystische Gottheit namens Sleep, die als übernatürliche Verkörperung von Liebe, Abhängigkeit und Schmerz erscheint. Über die Alben Sundowning, This Place Will Become Your Tomb und Take Me Back To Eden erzählt Vessel von seiner Beziehung zu dieser Gottheit: ein Wechselspiel aus Anbetung, Zurückweisung und Verzweiflung, die im letzten Album in einer Mischung aus Trotz, Abschied und Aufarbeitung gipfelt.

Doch was nun, nach dem Abschluss einer unfassbar innovativen Trilogie? Even in Arcadia scheint eine neue Ära einzuleiten. Teilweise jedenfalls… Zwei Instanzen prallen aufeinander: House Veridian (grünes Artwork – Lore) und Feathered Host (weißes Artwork – der Man hinter der Maske). Lyrisch und musikalisch hab ich noch nie sowas erlebt wie bei Sleep Token. Wie viele Details, Recherche, Tiefe und Easter Eggs hier versteckt sind. Man müsste eine Wissenschaft nur dafür entwickeln. Wer tiefer in die Materie einsteigen will, der/dem empfehle ich den Podcast Sleep Study.

Look to Windward

Auf den ersten Hörer ist Look to Windward sensory overload. Synth Beats, Breakdowns, Trap Beats, Drum Solos, Streicher – ihr bekommt es alles. Ein opulenter, überladener, filmischer Auftakt. Ich habe das Gefühl, dass die Band alles in den Song reingesteckt hat, was sie in ihrem Repertoire hatten. Stolze 7 einhalb Minuten ist der Song lang. Und das Ergebnis ist ein Song, den man erst bei wiederholtem Hören richtig schätzt, aber der als passender Öffner des Albums agiert. Und trotz aller Spekulationen: Sleep tritt auch in diesem Album noch einmal auf die Bühne.

Emergence

10/10 – Der Song hat einfach alles: einen herzzerreißenden Start dank Vessels einzigartiger Stimme, verspielte Build-Ups, Rap-Verses und ebenso erschütternde Breakdowns… und ja wer hätte es gedacht: ein jazziges Saxophon-Outro von Gabi Rose von BILMURI. Eine Wundertüte, wie sie besser nicht schmecken würde.

Die erste veröffentlichte Single Emergence ist Sleep Token in Reinform: Genresprengend. Was für andere riskant wäre, ist für die Band business as usual. Inhaltlich geht es um Transformation, emotionale Turbulenz und die bittersüße Akzeptanz, dass manche Beziehungen – vermutlich die mit Sleep – einen nie ganz verlassen, egal wie sehr man innerlich kämpft.

Past Self

Ein Song, den ich zunächst nicht gebraucht hätte. Definitiv anders als alles, was man bisher von Sleep Token gehört hat, aber meiner Meinung nach etwas langweilig und gezwungen. Ich persönlich hätte das Autotune und die Trap Beats nicht gebraucht und trotzdem schätze ich das Experiment. Und beim vermehrten Hören, gewinne ich langsam Gefallen daran. (Fun Fact: Hier sampelt Vessel die Melodie des Computerspiels Zelda)

Lyrisch ist er aber wiederum interessant, da das Album zwischen Lore und Momenten wechselt, wo der Charakter Vessel bröckelt und Hörer:innen hinter die Maske blicken können. Vessel versucht mit Past Self sein echtes Ich durchblicken zu lassen („Stepping up from my future, uploading my true self“) und alte Geister hinter sich zu lassen („Apologising for shit that frankly I stopped thinking of years ago“). Vessel versteht es wie kein anderer Poesie in seine Lyrics zu bringen:

„And you know I deliberate on cutting out the demons
I still need a dark side, they just need a reason“

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Dangerous

Ja, es geht doch! Einer meiner Favourites auf dem Album! Im Vergleich zu Past Self finde ich, dass die Experimentierfreudigkeit bei Dangerous mehr als geglückt ist. Vielleicht auch, weil der Song auf halbem Weg familiärer wird. Denn das kann Sleep Token am besten: langsamer Build-Up bis zu völliger Anarchie. Im gesamten Album finden sich Referenzen zu vergangenen Alben wieder, wie hier zum Beispiel zu Vore. Die Intonation von Vessel finde ich hier am interessantesten, die Lyrics bilden die Melodie beinahe selbst. Was eine willkommene Abwechslung zu den Rap Verses in den vorherigen Songs ist.

Caramel

Als ich den Song zum ersten Mal gehört habe, war ich etwas perplex über den Pop/Reggae-Mix (ja, Reggae – man weiß wirklich nie, was man mit Sleep Token bekommt). Aber auf einmal stellt sich eine unterschwellige Traurigkeit ein, wenn man die Lyrics aufschnappt. Denn die Aussage ist ziemlich eindeutig:

„This stage is a prison, a beautiful nightmare“

Vessel thematisiert hier die den toxischen Character, den ein Teil der Fanbase angenommen hat und die Realisation, dass mit steigender Bekanntheit die eigentliche Message der Band, die Musik für sich stehen zu lassen, entkoppelt von den Personen in der Band, etwas verloren gegangen ist. Mit dem krassen Aufstieg nach Take Me Back To Eden haben einige Personen ungesunde parasoziale Beziehungen zu den Band-Membern aufgebaut. Sie wurden sexualisiert, ihre Privatsphäre verletzt, Identitäten geleakt etc. Und das, wenn Vessel nur ein Gefäß für die Hörer:innen sein wollte, das als Mittel zur eigenen Verarbeitung stehen sollte, daher auch der Name Vessel.

Und trotz dessen, dass er realisiert, dass er undankbar klingt, dass er Angst hat, seine Haustür aufzumachen und er mit mentalen Problemen kämpft, dass die Hintergründe seiner Worte diese Fans nicht interessieren, fühlt er sich verpflichtet, weiterzumachen und auch diesen Leuten zu geben, was sie wollen. Und zum Schluss: ein Deathcore-Drop und die resignierte Frage:

„Tell me, did I give you what you came for?“

Even in Arcadia

Ich hätte nicht erwartet, dass ich auf Even in Arcadia einen meiner allerliebsten Sleep Token Songs finde. Aber der Title Track hat mir schon beim ersten Hören pure Gänsehaut verpasst. Der Song startet mit dem Spieluhr-Intro, das im gesamten Promo-Zeitraum präsent war und geht dann über in die schönste Piano-Melodie, die auch schon zu Anfang geteasert wurde.

Der Song ist eine Offenbarung und hat eine Selbstverständlichkeit trotz mythischer und weiter Bildsprache. Vessel scheint mit seinen Dämonen abzurechnen. Wo im letzten Album vom Paradies Eden die Rede war, findet sich Vessel in einem neuen wider, diesmal in Arcadia. Doch es ist nicht alles Gold, was glänzt.

„It seems that even in Arcadia you walk beside me still“

Selbst in seinem neuen Paradies entkommt Vessel Sleep nie ganz. So fesselnd wie das Bild, so vereinnahmend der Song. So ganz lässt er mich nie los, den Rest machen die Streicher am Ende (bitte mehr davon).

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Provider

Sexy Token ist zurück. Obwohl Provider mich schon mit dem Titel skeptisch machte, haben mich die ersten zwei Minuten mit dem poppigen Dance-Vibe zusätzlich verwirrt. Ein paar der Lyrics finde ich etwas cringe, aber nach dem ersten Drittel findet jedenfalls die Melodie seine Berechtigung im Breakdown und dem darauffolgenden Chorus.

Der Song ist offensichtlich sehr sexuell angehaucht. Es dreht sich und eine frühere, toxische Beziehung, der man eine neue Chance gibt und Spoiler: keine gute Idee. Die immer wiederkehrende Zeile „I wanna be your provider“ balanciert zwischen Selbstbewusstsein und Verzweiflung. Es geht um die verschwommenen Grenzen zwischen körperlicher und emotionaler Abhängigkeit. Der Song ist ein Grower (ich entschuldige mich hiermit für das gescheiterte Comic Relief).

Damocles

Ein so ehrlicher Blick hinter die Fassade des Mannes hinter der Maske wie je zuvor. Sleep Token reflektieren die Kehrseite ihres Erfolgs – mit einer Referenz zur Legende des Damoklesschwerts. Ich komme wieder zurück auf den Fakt, dass Sleep Tokens Popularität so extrem in kürzester Zeit gewachsen ist, dass sich wahrscheinlich niemand darauf vorbereiten konnte, schon gar nicht die Band. Der Fame bringt Druck, utopische Erwartungen, psychische Last. Alle erwarten ein episches Meisterwerk in jedem Song. Auch Vessel erkennt das an:

„I know these chords are boring
But I can’t always be killing the game“

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Sleep Token wären nicht Sleep Token, wenn nicht ein paar Easter Eggs in der Musik versteckt wären. In Minute 02:14 hört man, eine Kassette, die umgedreht wird. Es könnte das Signing beim Major Label RCA Records am 14.02. andeuten – ob bereut oder nicht, bleibt offen. Es muss nicht alles Schwarz und Weiß sein, aber das Signing, die Zusammenarbeit mit Spotify selbst, Songs in den Top 50 Charts, riesige Anzeigetafeln am Times Square, endlose Merch-Drops, zeigen, dass es nur weiter bergauf gehen soll. Sicher ist Druck vom Label da, aber es handelt sich hier, um vier erwachsene Männer, die genau wissen, was sie wollen und was nicht. Deshalb haben Songs wie Damocles und Caramel für mich einen kleinen Beigeschmack.

Gethsemane

Wo in Provider Vessel noch komplett von seiner Obsession vereinnahmt war, sehen wir in diesem Song die andere Seite der Medaille, denn die emotionale Abhängigkeit beißt zurück. Musikalisch erzeugt der Song absolute Verletzlichkeit. Der Titel verspricht nichts anderes (wer interessiert ist, googelt den biblischen Hintergrund). Vessel erkennt jetzt, dass die Beziehung toxisch war und er nur die Illusion geliebt hat. Er zeichnet sich als Opfer und zugleich stiller Zeuge seines eigenen Untergangs.

Lyrisch finde ich den Song etwas basic, aber vielleicht braucht es die großen Wörter und spirituellen Metaphern nicht, wenn man schlichtweg verletzt ist. Der Song klingt wie ein Tagebucheintrag – schlicht, ehrlich, zerbrechlich. Ein Song über das Erkennen toxischer Beziehungen – und darüber, dass man sie nie ganz loswird.

„You never saw me naked, you wouldn’t even touch me“
„And I was trying my best, and that’s the thing I tell the mirror“

Infinite Baths

Fast geschafft durch diese endlos lange Review und wie könnte es nicht besser passen als mit einem genauso langen Song. Infinite Baths ist mit 8 Minuten 23 Sekunden der bisher längste Sleep Token Song. Infinite Baths und auch infinite tears meinerseits. Vessel klingt erschöpft, aber entschlossen. Nach dem zehrenden Kampf mit seinen Dämonen hat er es endlich in das vermeintliche Paradies geschafft. Es ist der emotionale Höhepunkt des Albums:

„I’m so tired inside, I could sleep through a landslide, but I’m finally here and I’m not leaving this time“

So stark wie die Message ist, so massiv endet der Song auch: mit den heavy Screams des Gitarristen IV über ganze 3 Minuten. Ich bin mir nicht sicher, ob es Vessels Sieg über die Dämonen zeigt oder doch ist diese Wiedergeburt mehr Schein als Sein und die Dunkelheit dämmert, und mit ihr auch Sleep. Der Song endet mit einer Zeile und demselben Beat aus dem ersten Song: „Will you halt this eclipse in me?“. Ein richtiger Full Circle Moment, was vermuten lässt, dass Vessel in einem ewigen Kreislauf gefangen ist – und jede neue Phase doch nur ein weiterer Anlauf bleibt, zu entkommen.

Ein Echo der Veränderung und was bleibt, ist das Gefühl

Ein würdiges emotional aufgeladenes Ende eines polarisierenden Albums, mit unfassbar schönen Momenten, neuerem poppigerem Sound und einen völlig neuen Blickwinkel auf die Band. Transformation beschreibt das Album, sowie die aktuelle musikalische Reise der Band wohl am besten. Kein einfaches Album, kein perfektes – aber ein ehrliches.

Sleep Token versteht es wie keine andere Band, disparate Genres in perfekte Harmonie zu bringen und Progressive Metal der Masse schmackhaft zu machen. Wer sich darauf einlässt, bekommt nicht nur Musik – sondern eine immersive Erfahrung.

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