Derya Yıldırım & Grup Şimşek bestehen darauf, dass man, wenn man ein altes Volkslied spielt, etwas Neues beisteuern muss, „sonst könnte man genauso gut einfach die alte Platte auflegen.“ Seit mehreren Jahren beeinflusst die Band um Derya Yıldırım die Wahrnehmung türkischer Volksmusik in Deutschland und weltweit. In Hamburg geboren und mit vielen Instrumenten aufgewachsen, hat sie sich schon von früh an intensiv mit Musik beschäftigt – und was es mit ihr macht. Anlässlich ihren neuen Albums Yarın Yoksa haben wir mit ihr über die Bandynamik, Volksmusik als Spiegel der Gegenwart und die Verbundenheit über Musik gesprochen.
Derya Yıldırım & Grup Şimşek im Interview
Anna: Hey! Es ist gerade wahrscheinlich sehr viel los bei euch, könnt ihr uns einen Einblick geben in alles, was gerade passiert und wie’s euch geht?
Derya: Wir sind gerade von unserer Album Release Tour zurückgekommen und immer noch total überwältigt von den ersten Konzerten mit dem neuen Album. Die Tour begann mit einem sehr besonderen Konzert in der Elbphilharmonie in Hamburg – das war ein wunderschöner Auftakt und ein ganz besonderer Moment für uns. Es gab viele Überraschungen und die Resonanz war einfach unglaublich. Ich glaube, wir müssen alle erst mal wieder ein bisschen runterkommen und alles verarbeiten. Gerade jetzt, in der kleinen Verschnaufpause vor den Frühlingskonzerten im Mai, fühle ich mich sehr beseelt und dankbar.
Yarın Yoksa, so der Titel eures neuen Albums, ist nun seit etwa zwei Wochen erhältlich. Wie fühlst du dich damit, dass die neue Musik endlich in der Welt ist?
Es ist wirklich aufregend, dass das Album jetzt draußen ist. Wir haben ziemlich lange daran gearbeitet, aufgenommen haben wir es schon letzten Sommer. Jetzt endlich die Musik teilen zu können, fühlt sich sehr besonders an. Vor allem, weil ich das Gefühl habe, dass diese Lieder den Menschen in der aktuellen Zeit Halt geben können. Die politische Lage, die Unsicherheiten – all das spiegelt sich in gewisser Weise auch im Album. Es hat eine bestärkende, fast tröstende Energie. Es ist Musik, die versucht, die Welt zu verstehen, sie zu beobachten, und gleichzeitig die eigene innere Stimme zu finden.

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„Es war der Beginn eines neuen Kapitels für uns.“
Wie war das Schreiben und Produzieren des Albums? Habt ihr einen Unterschied im Vergleich zu euren vorherigen Alben festgestellt? Gab es etwas, das ihr anders geplant (oder nicht geplant) habt?
Ja, da gab es tatsächlich eine große Veränderung. Unsere bisherigen Alben haben wir alle selbst geschrieben und produziert, komplett als Band. Bei Yarın Yoksa war das zum ersten Mal anders: Wir haben bei Big Crown Records unterschrieben und mit Lein Michels als Produzenten gearbeitet. Wir schätzen ihn sehr und die Arbeit mit ihm im Diamond Mine Studio war eine ganz neue, bereichernde Erfahrung. Seine Perspektive hat uns in unserer Entwicklung sehr weitergebracht. Das war der entscheidende Unterschied bei diesem Album – und in gewisser Weise auch der Beginn eines neuen Kapitels für uns.
Kannst du uns den Entstehungsprozess (eines) deiner Lieblingssongs auf dem Album erklären? Warum und wann hat dieser Song begonnen, sich für dich besonders anzufühlen?
Ein Lied, das mir besonders am Herzen liegt, ist Bilemedim Ki – auf Deutsch: Ich konnte es nicht wissen. Der Song erzählt von einem lyrischen Ich, das in einem kleinen Boot sitzt, im Auge des Sturms, und der Kompass ist kaputt. Diese schwankende Bewegung – wie ein Boot auf dem Wasser – wollten wir unbedingt auch musikalisch spürbar machen, und dabei die inneren Ruhe nicht verlieren. Anstatt eine Demo vorzuspielen, haben wir im Studio spontan eine reduzierte Version gespielt – mit Rahmentrommel, ein paar Akkorden und einem einfachen Groove. Es ging uns vor allem darum, das Gefühl und den Kern des Refrains erfahrbar zu machen… Besonders war auch das Experimtieren mit dem Sound der Bağlama, wie sie zum Beispiel durch einem Oilcan effect Pedal aufzunehmen. Dadurch hat der Song einen schimmernden, fast träumerischen Klang bekommen. Es war einer der ersten Titel, die wir aufgenommen haben – und beim gemeinsamen Spielen entstand sofort eine besondere Magie.
„Volksmusik ist kein Relikt aus der Vergangenheit, sondern ein Spiegel der Gesellschaft.“
Ihr habt euch Musik immer aus einem ganz bestimmten Blickwinkel genähert. Was ist für euch so wichtig, wenn ihr traditionelle Musik in moderne Musik übersetzen? Ich glaube, man muss sehr behutsam vorgehen, um die Seele dieser Lieder nicht zu verlieren, ihnen aber dennoch eine neue Wendung zu geben.
Für uns geht es gar nicht darum, traditionelle Musik modern zu machen – denn was bedeutet überhaupt modern? Volksmusik ist kein Relikt aus der Vergangenheit, sondern ein Spiegel der Gesellschaft. Sie war immer Ausdruck ihrer Zeit, ihrer Menschen, ihrer Kämpfe und Hoffnungen. In diesem Sinne ist sie auch heute relevant – vielleicht sogar notwendiger denn je.
Ein zentrales Anliegen für uns ist es, unsere eigene Sprache zu finden. Eine Stimme, die in unserer heutigen Gesellschaft schwingt und sich darin spiegelt. Die Volksmusik, insbesondere durch die Bağlama, ist ein wesentlicher Bestandteil unserer musikalischen Identität. Sie prägt unseren Sound, ohne dass wir sie „anpassen“ müssen. Es geht nicht um Tradition versus Moderne, sondern um das, was dazwischen liegt – um ein musikalisches Erbe, das weiterlebt, wenn man es ernst nimmt und ihm zuhört. Für uns heißt das: Kultur und Herkunft sind lebendig, sie entwickeln sich – und sie geben uns das Gefühl von Tiefe, Zugehörigkeit und Sinn. Das ist es, was wir mit unserer Musik ausdrücken wollen.

Wie seid ihr zum Musikmachen gekommen? Kannst du dich an den Moment erinnern, in denen euch klar wurde, dass ihr dieser Leidenschaft professionell nachgehen und sie auf Bühnen und Festivals bringen wollt, um sie mit vielen anderen zu teilen?
Wir haben uns 2014 bei einem Theaterprojekt kennengelernt – und diese intensive Zusammenarbeit hat uns nicht nur musikalisch, sondern auch freundschaftlich sehr zusammengeschweißt. Einer der Schlüsselmomente war, als wir unsere ersten Konzerte, die in England stattfanden, selbst organisiert haben. Das war aufregend, mutig und hat uns gezeigt, wie viel möglich ist, wenn man einfach loslegt. Kurz darauf entstand unsere erste EP Nem Kaldı, und die Resonanz auf unsere erste Single war überwältigend. Das war für uns der Wegweiser – da wussten wir: Das ist mehr als nur ein Projekt, das ist unser Weg. Und jetzt, über zehn Jahre später, sind wir immer noch gemeinsam unterwegs.
„Es geht darum, den ständigen Kampf um Sichtbarkeit und Anerkennung weiterzuführen.“
Wir haben mit ENGIN, einer deutsch-türkischen Indie-Band, die kürzlich eine EP mit türkischen Volksliedern und Klassikern des Anadolu-Rocks namens Mesafeler veröffentlicht hat, darüber gesprochen, wie türkische Musik in Deutschland wahrgenommen wird und wie sich das über die Jahre verändert hat. Was sind deine Erfahrungen damit?
Definitiv hat sich die Wahrnehmung anatolischer Volksmusik in Deutschland verändert – sie hat sich auf neuen Ebenen etabliert. Früher fand sie oft eher im kleinen Rahmen statt: in der Nachbarschaft, in Kulturvereinen, innerhalb einer Community. Heute wird sie durch neue Generationen weitergetragen – und dadurch entstehen neue Räume für Begegnung.
Es geht nicht nur darum, mehr Aufmerksamkeit zu bekommen, sondern darum, den ständigen Kampf um Sichtbarkeit und Anerkennung weiterzuführen. Es fühlt sich an, als wären wir gerade an einer Schnittstelle angekommen, an der sich etwas öffnet: Es entstehen professionelle Alben, Konzerte, Festivals – und diese Musik erreicht ein neues Publikum. Ein starkes Zeichen dafür ist für uns, dass die Bağlama heute über die Grenzen hinweg klingt – dass wir mit einem Plattenvertrag in New York arbeiten und Musik machen, die tief in Anatolien verwurzelt ist, aber gleichzeitig ihren Platz in einem globalen Kontext findet. Da wo es auch hingehört.
„Uns fasziniert vor allem die Ästhetik des analogen Sounds.“
What is it that pulls you to this era of music of the 60s and 70s?
Uns fasziniert vor allem die Ästhetik des analogen Sounds – diese Wärme, Tiefe und Direktheit. Gleichzeitig steht bei uns immer die Suche nach einer eigenen musikalischen Sprache im Mittelpunkt. Geschmack und Klangästhetik spielen dabei eine zentrale Rolle. Natürlich ist die Musik dieser Zeit eine große Inspirationsquelle für uns, aber es geht uns nicht um Nostalgie oder Nachahmung. Ganz im Gegenteil: Wir wollen etwas Eigenes schaffen – mit Respekt vor dem, was war, aber mit dem Blick nach vorne.
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Was sind deine schönsten Erinnerungen an deine Kindheit, was die Musik angeht? Welche Künstler und Lieder, sowohl deutsche, internationale als auch türkische, haben dich am meisten beeinflusst?
Meine musikalische Sozialisation fand stark im familiären Kontext statt. Bei uns lief immer Musik – sei es die Plattensammlung meiner Großeltern oder die Kassetten meiner Eltern, die zu jeder Tageszeit liefen. Musik war ein ständiger Begleiter im Alltag. Besonders prägend war die Vielfalt türkischer Genres: von traditioneller Volksmusik über Pop und Rock bis hin zu Arabesque. Diese breite Mischung hat mich tief beeinflusst. Eine besonders schöne Erinnerung sind die Autofahrten zur Musikschule mit meinem Vater. Er hatte immer selbstgebrannte Compilations dabei – das war für mich etwas ganz Besonderes und hat mich musikalisch stark geprägt.
Wenn wir gerade bei musikalischen Prägungen sind: gibt es türkische Bands/Künstler, die wir uns ansehen sollten? Wir sind immer auf der Suche nach neuem Input.
AySay aus Dänemark – ein kurdischsprachiges Trio, die Musik ist sehr eigen, atmosphärisch.. und Meral Polat aus den Niederlanden – eine unglaublich vielseitige Künstlerin. Beide Projekte tragen zur Sichtbarkeit und Weiterentwicklung anatolischer und kurdischer Musik im europäischen Kontext bei.
„Musik verbindet uns einfach.“
Ihr macht jetzt seit fast 10 Jahren zusammen Musik – wie hat sich die Dynamik in eurer Band seitdem verändert?
Unsere Banddynamik hat sich im Laufe der Zeit bestimmt verändert. Es ist schwer, das genau in Worte zu fassen, weil es einfach passiert, ohne dass man es wirklich merkt. Natürlich verändert man sich mit der Zeit, aber das Besondere ist, dass wir uns immer gegenseitig zuhören und die Lebensweisen des anderen respektieren. Es ist einfach dieser natürliche Flow, der es uns ermöglicht, auch mit unterschiedlichen Lebensrealitäten und Orten zu leben und trotzdem zusammenzukommen, um Musik zu machen. Für mich macht das die Band so besonders – Musik verbindet uns einfach.
Für unsere letzte Frage fragen wir immer nach einer untold story – gibt es etwas, dass du noch keinem Interview erzählt hast und jetzt loswerden willst? Das kann eine zufällige Geschichte sein oder ein gutes Album, das Sie kürzlich gehört haben.
… hmm weiß jetzt nicht genau, was ich erzählen soll. Kurz vor dem Albumaufnahmen wo wir noch auf Tour waren, hat mir Graham Mushnik Dorothy Ashbys Album The Rubáiyát of Dorothy Ashby empfohlen und drauf geschworen, dass ich es lieben werde und dass es genau was für mich wäre… und da kannte Graham mich einfach wirklich zu gut. Seither höre ich das Album immer wieder und hat mich während der Albumproduktion sehr inspiriert. Ich fühle mich sehr wohl in Dorothy Ashbys Stimme und in ihren Melodien.
Fotocredit: Philomena Wolflingseder + Sebastian Madej