Mein Jahresrückblick aus dem letzten Jahr liegt mir auch immer noch sehr am Herzen, wenn ich bedenke welche Probleme auch 2023 mit sich forttrug. (Hier: https://untoldency.de/daschas-jahresrueckblick-ich-habe-keine-lust-mehr/) Ein bisschen Besserung schien vorhanden, bis zur deutlichen Änderung steht noch vieles aus. Wie ironisch es ist, dass ich von Fortschritt träume, aber mich musikalisch in diesem Jahr nur nach einer früheren Zeit sehnte, ist mir bewusst.
Ich ertappte mich dieses Jahr oft dabei genervt von aktueller Musik zu sein. Die Festival Line Ups sahen fast alle identisch aus, die neuen Releases erkämpften sich zielstrebig die Aufmerksamkeit der Algorithmen und Playlistplatzierungen. Obwohl ich nicht immer mit Hater-Attitüde darauf schauen will und auch ich gelegentlich Domiziana und Ski Aggu pumpe, begehrte ich wohl in meinem Inneren eine andere Zeit und diese zog mich immer weiter in sich hinein: Die Indie Sleaze Ära. Da ich hoffe, dass diese Zeit niemals in Vergessenheit gerät, teile ich gerne wie viel Platz dieses Thema in meinem Gehirn einnimmt. Das wird jetzt quasi kein Jahresrückblick von 2023, sondern eher 2007.
Kurz gefasst: Die gesamte Ästhetik um die UK und US Indie Musik- und Partyszene der Zeit zwischen 2006 bis 2012 lag schon immer in meinem Interesse, begann aber dieses Jahr meine vollkommene Obsession zu werden. Alles in mir wünschte sich mehr Intensität, aber irgendwie mehr Ranzigkeit. Sleaze, zu deutsch „schäbig“, “schmutzig” beschreibt das ganze auf den Punkt. Bandmember die aussehen als würden sie ein Mal im Monat duschen, bunte Strumpfhosen mit Shorts, schlechte Digicam Fotos mit viel zu grellem Blitzlicht, exzessive, schwitzige Partys und eine große Menge aufkommender neuer Bands, die für immer ihre Spuren hinterließen.
Whatever People Say I Am…
Als erstes muss ich unbedingt erwähnen, dass Whatever People Say I Am, That’s What I’m Not, das 2006 erschienene Debütalbum der Arctic Monkeys, meiner Meinung nach das beste Indie Album aller Zeiten ist. Genau darin befindet sich auch die Kernessenz und der Beginn der Indie Sleaze Ära. Auf 13 unvergesslichen Songs nehmen die damals 20 jährigen die ganze Welt auf einen nächtlichen Trip durch das Partyleben von Sheffield mit. Alex Turner fungiert als Beobachter und Geschichtenerzähler: Betrunkene junge Menschen auf der Suche nach etwas Nähe, sinnloses Drama, dreckige Dancefloors und unangenehmes Erwachen am Morgen danach. Hier scheint alles egal, denn der Rausch ist die treibende Kraft der Szenerie des Albums, das eine akkurate Zeitkapsel seines Moments darstellt, jedoch keineswegs schlecht gealtert ist. Es sind keine großen Emotionen und abstrakten Lyrics, sondern banale zwischenmenschliche Situationen, die betrunkene junge Menschen nunmal durchleben. Es scheint so, als ob genau das rohe, scheinbar simple, hässliche den Nerv der Zeit traf und das große Aufsehen quasi über Nacht auslöste. Die große Geschichte des Abends besteht eben oftmals daraus das beliebteste Mädchen der Stadt auf der Tanzfläche mit einem betrunkenen Witz nicht wie erhofft zum Lachen zu bringen. Und genau diese Geschichte dann doch so mitreißend und dramatisch zu erzählen, als sei der Rest der Welt in dem Moment ein Stück weit weniger wichtig geworden, ist die Kunst des Albums. Denn sind wir ehrlich, genau diese Fokus-Verschiebung ist es, was eine Partynacht ausmacht. Man trifft durch die Tracks auf fremde Alltags-Charaktere, von denen man doch das schwammige Gefühl bekommt, ihnen selbst schon mal begegnet zu sein.
Die vier Musiker aus Sheffield sahen während dieser Zeit zugegebenermaßen ziemlich ranzig aus: Keine Ahnung von Fashion, nur verwuschelte Haare, laute Gitarren und Alex Turners geliebter Sheffield-Akzent. Sie wurden in Rekordzeit nach einem Hit-Single Release zu Cover Stars und Indie Ikonen. Oft denke ich an Alex Turner, der ab 2007 mit Model und Moderatorin Alexa Chung für einige Jahre das legendäre, beliebte Indie Sleaze-Paar abgab. Die Medien liebten sie und Alex Turner’ berühmter Liebesbrief an Alexa kursiert bis heute im Internet. „My mouth hasn’t shut up about you since you kissed it. The idea that you may kiss it again is stuck in my brain, which hasn’t stopped thinking about you since, well, before any kiss(…)“, ja ich kann ihn auswendig. Der Mythos besagt, Alexa hätte den Notizzettel in einer Bar vergessen, doch das Internet und ich vergaßen ihn nie.
Bei einem der bis dahin am häufigsten, schnellsten verkauften Debütalben Englands ist auch der Einfluss, den das Album auf kommende Indie-Rock Bands hatte, ist nicht wegzudenken. Wer einen weiteren Tiefgang in das legendäre Album machen möchte, sollte unbedingt den in diesem Jahr erschienen BBC UK Podcast „Believe the Hype“ von Kate Nash anhören, der alles rund um den Release und die Anfänge der Arctic Monkeys behandelt. Ich bin Fan: https://www.bbc.co.uk/sounds/play/m001hlds
Selbstverständlich sind Arctic Monkeys nicht die einzige einflussreiche Band dieser Zeit gewesen. Es gibt eine Menge Bands, die genau in diese Ästhetik – ich würde es sogar eher als Phänomen bezeichnen – reinpassen. Da wären beispielsweise The Strokes, Bloc Party, Yeah Yeah Yeahs, Crystal Castles, The White Stripes, CSS, Gossip, Franz Ferdinand, Metric nur um ein Paar zu nennen. Um auf alle davon einzugehen, müsste ich wahrscheinlich ein ganzes Buch statt einem Artikel schreiben. Von knallendem Indie-Rock zu absurdem Elektro-Pop: Es ist schwierig, ihre Musik in Worten zu einer gemeinsamen Kategorie zu fassen, aber ein Gefühl verbindet sie. Ein Gefühl, dass es schafft sich beim Hören bis heute weiterzuvermitteln. Mein liebster Instagram Account ist @indiesleaze, der genau diese Party- und Musikszene, ihren Style und ihre Persönlichkeiten dokumentiert und nicht vergessen lässt. In diesem Jahr habe ich viel Zeit damit verbracht die Posts zu durchstöbern, um mir ein kleines Stückchen dieser Ära abzugreifen.
Dabei bin ich auch auf eine geniale Fotoreihe des britischen Fotografen James Mollison gestoßen, der Fans von Bands in diesen Jahren vor ihren Konzerten fotografierte:
Neben Style und Musik gibt es auch Filme und Serien, die eng mit der Ästhetik in Verbindung stehen. Dabei stehen Submarine, für den Alex Turner übrigens den Soundtrack schrieb, Mysterious Skin und Scott Pilgrim vs. the World ganz oben. Michael Cera, der immer so schrecklich nachvollziehbar awkward auf Fotos aussieht, steht passend als einer der Symbolbilder der Indie Sleaze Ära ein. Die Filme sind seltsam, die Charaktere nicht den begehrenswerten Star-Standards entsprechend. Sie sind keine klassischen Meisterwerke, man könnte sagen „trashy“, aber vollkommen liebenswert.
Skins – Hautnah
Bleiben wir bei Symbolbildern: Erinnert ihr euch noch an Effy Stonem? Ich habe sie definitiv nie vergessen. Die coolste britische Teenager-Figur prägte eine gesamte Generation von Teenagern und wurde zum Vorbild einer neuen Ästhetik, auch wenn die dabei geschehene Romantisierung von psychischen Problemen selbstverständlich kritisch zu betrachten ist. Die Rede ist natürlich von Skins UK, 2007-2013. Mit genau dieser Serie bin ich aufgewachsen und ich könnte niemals nachzählen, wie oft ich sie bis heute gesehen habe. Skins ist quasi das Epitom des Indie Sleaze Begriffs: Es zeigt junge verlorene Menschen, die nicht in die breite Gesellschaft zu passen scheinen und die lieber feiern und Drogen nehmen statt auf andere zu hören. Die Serie und der damalige Hype um sie zeigt die Blase einer gewissen Zeit, rohe Gefühle, keine makellosen Schauspiel-Stars, sondern eine Clique ranzig aussehender Teenies, die wahrscheinlich ausschließlich nach Kippen und Bier riechen. Aber vor allem auch viel gute Musik. Ich bin froh, dass ich nicht an einem Punkt bin, dass ich Skins als cringe und überholt ansehe, sondern es immer mehr als einzigartigen Moment zu schätzen weiß.
Es gibt einige Musikmomente in der Serie, die immer wieder etwas in mir auslösen: Wie Main Character Effy Stonem selbstbewusst zu Shove It von Santigold feat. Spank Rock den Schulflur entlang schlendert, die Charaktere der ersten Serien-Generation einen Breakdown auf einem Crystal Castles Konzert erleben, die Skins Surprise Party auf einem Foals Konzert zu Hummer, der erste Trailer, dessen wilde Party mit Standing In The Way of Control von Gossip unterlegt war und, obwohl musikalisch nicht aus der Zeit, das große Staffelfinale mit Gesangseinlage zu Cat Stevens – Wild World. Einen besonderen Platz in meinem Herzen hat für immer auch Don’t Preach To Me von The Skallywags, den Hauptcharakter Cooks singt, wenn er die Straße entlang läuft und er vermittelt, dass alles auf der Welt im Kern egal sei. Nichts daran ist schön oder scheint künstlich, eher schäbig und manchmal brutal. Wahrscheinlich ist diese furcht- und schamlose Nahbarkeit auch das, was die Serie so anziehend macht. Es wirkt fast so, als ob ein Teil dieser Ästhetik eben genau daraus bestand zu wissen, dass das nicht ewig anhält.
Zurück zur Realität
Dabei handelt es sich um ein dargestelltes, ungreifbares Gefühl, das ich nur noch aus der Ferne betrachten kann und nach dem ich mich sehne, obwohl ich es nie richtig kannte. Irgendwie nicht fremd, aber keine reale Erinnerung. Zwar hab ich die Zeit miterlebt, war aber definitiv zu jung, um mich in Clubs aufzuhalten. Vielleicht romantisiere ich eine selektiv dokumentierte Ästhetik zu sehr, vielleicht brauche ich diese unstillbare Sehnsucht aber auch, weil mich zur aktuellen Zeit nichts besonders reizt. Damals war gewiss nicht alles besser, jedoch strebt ein Teil von mir nach genau diesem unperfektem Chaos, von dem ich meine Augen und Ohren nicht abwenden kann. Vielleicht auch nur, weil ich das eben mit einem Sicherheitsabstand tue. Während mir momentan vieles in der Musikszene zu glatt und poliert erscheint, zog mich das Schäbige immer weiter zu sich hinein.
Wenn man nach dem Begriff ‚Indie Sleaze’ im Internet sucht, wird man als erstes von Modeseiten darauf hingewiesen, dass das Fashion-Revival in den Startlöchern stünde. Klar, das macht Sinn, die frühen 2000er sind bereits wieder im Trend und der Kreis dreht sich bekanntlich weiter. Allerdings erhoffe ich mir, dass wir wenigstens ein bisschen mehr aus der Ära abgreifen können, als nur gestreifte T-Shirts, Skinny Jeans und hässliche Schals und die positiven Aspekte in die Gegenwart integrieren. Schließlich besteht so ein Phänomen in seiner Gänze nicht nur aus seinen Outfits. Neue Bands wie TEMMIS haben beispielweise vorsichtig, aber offensichtlich, in ihrem Musikvideo zu Arterien und auf ihrer Tour dieses Jahr auf die Ästhetik zurück gegriffen. Auch cumgirl8 aus NYC habe ich dieses Jahr live gesehen und mir unmittelbar in einem kleinen schwitzigen New Yorker Club in 2010 vorgestellt. Zwar habe ich mein Jahr mental anscheinend nicht in 2023 verbracht, während ich mir Fotos der IT-Girls Sky Ferreira und Alexa Chung angeschaut habe, jedoch haben es die verwaschenen Spuren des Indie Sleaze trotzdem geschafft mich einzuholen. Sei es mit Hugh Harris von The Kooks zu quatschen, bei Interpol im Fotograben zu stehen, mit The Subways in einem Backstage zu sitzen, Midnight City von M83 oder zwei Songs von Whatever People Say I Am live zu erleben, es hat mich in sanfter Form auch in der Realität begleitet. Die Hits sind Hits geblieben, alles herum hat sich verändert. Ich weiß nicht genau, ob die Menschen heute insgesamt einfach langweiliger, vorsichtiger und bequemer geworden sind. Schätzungsweise wird kein versuchtes Revival das Phänomen wohl wieder in gänzlicher Kraft zurückbringen. Vielleicht ist das besser so, damit ich auch in 2024 nostalgisch in fremde verpixelte Partyaufnahmen fliehen kann.
Zuletzt findet ihr hier meine in diesem Jahr entstandene Indie Sleaze Playlist. Sie ist mit Liebe kuratiert, sie ist lang und rückt definitiv die besten Juwelen dieser Zeit in’s (Blitz-)Licht: