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Daschas Jahresrückblick: Ich habe keine Lust mehr

Um die Spannung direkt stilsicher im ersten Abschnitt weg zu nehmen: Hier kommen meine Top 3 Spotify Wrapped Artists von 2022. Platz 1 belegt, wenig überraschend Paula Hartmann, Platz 2 (wieder) Rikas und Platz 3 Verifiziert. Mein am öftesten gehörter Song war I Hate That We’ll Be Strangers In A While von Cinemagraph. Ich konnte außerdem nicht genug von Mia Morgans FLEISCH bekommen. Meine Lieblingskonzerte waren zum einen von Buntspecht und zum anderen von My Chemical Romance, for obvious reasons. Das sind wundervolle Artists und ich bin dankbar, dass sie mein Jahr mit ihrer Musik so bereichert haben. Vor allem ohne Paula Hartmann wüsste ich nicht, was ich in diesem Jahr gemacht hätte. Ich glaube sie tut genau das, was man als „aus der Seele sprechen“ bezeichnet. Aber jetzt mal weg davon, denn würde ich weiter über meine geliebten Künstler*innen schreiben, wäre das zu viel Schwärmerei. Bitte, ihr wisst selbst wie toll Paula Hartmann ist. Ich habe lange überlegt, was ich in meinem Jahresrückblick schreiben soll. Neue Artists, die ich für mich entdeckt habe oder alte Alben, die ich wiederentdeckt habe, das hätte mich nicht zufrieden gestellt. Genau, das ist der Punkt. Ich bin gerade nicht zufrieden. Erst letztens hatte ich einen Abend, an dem ich so intensiv darüber nachgedacht habe, was mich an der Musik- und Konzertszene stört, dass ich zum Entschluss kam, dass ich keine Lust mehr auf das alles habe und alles hoffnungslos ist. Das ist natürlich übertrieben, aber manchmal fühlt es sich genau so an. Stellt euch zumindest nun vor, es würde jetzt Männer von Blond feat. addeN im Hintergrund laufen. Meiner Meinung nach einer der besten und wichtigsten deutschsprachigen Songs des Jahres.

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Hier kommt also eure gesunde Portion Negativität. Ich werde nun keine belegte Kritik an der Musikbranche schreiben, das haben viele vor mir schon ziemlich gut getan. Eine davon ist Fiona Kutscher, die in ihrer Arbeit „No Man’s Land“ Diskriminierung und fehlende Diversität in verschiedenen Teilen der Branche behandelt. Absolute Empfehlung, zum Lesen hier klicken.

Der aufgebrachte Bauernmob

Ich werde bloß meine eigenen Beobachtungen schildern. Viele davon trugen sich aber nicht nur auf Live-Events zu, sondern auch auf Social Media. Ein Ereignis, das meinen Eindruck von dem vorherrschenden großen Livepublikum prägte, war ein Tweet von mir aus dem Juni 2022, an dem Rock am Ring / Rock im Park Wochenende. Genauer gesagt, die Reaktionen dazu.

Obwohl der offensichtlich überzogene Tweet für mich nur ein unüberlegter Spaß und gar keine belegte, wohlformulierte Kritik war, bestätigte sich meine Annahme noch sehr viel mehr als gedacht. Ich muss dazu sagen, dass ich noch nie bei Rock am Ring oder Rock im Park war. Natürlich bei anderen Festivals schon, aber RaR blieb mir bisher erspart, während ich als Teenager immer unbedingt „irgendwann mal“ hin wollte und jetzt einfach keine Lust mehr darauf habe. Aber glücklicherweise kann ich diesen Riesenspaß gar nicht mehr erleben. Denn ich wurde ausgeladen. Richtig, im Gegenzug wurde ich von wütenden Festivalfans auf Twitter dazu ermahnt, bloß niemals ihr heiliges Gelände zu betreten. Obwohl sich viele davon zu dieser Zeit auf dem Festival befanden, war es anscheinend ebenso unterhaltsam meine Aussage auseinanderzunehmen: Ich sei eine Berliner-Hipster-Techno-Studentin, männerhassend und sexistisch, noch nie auf einem Festival gewesen und natürlich auch einfach dumm und auf der Suche nach Aufmerksamkeit. Mein Tweet ist ein kleines bisschen viral gegangen und anscheinend genau in das Blickfeld derer gerutscht, die ich in den 29 schriftlichen Wörtern zu meiner „persönlichen Hölle“ erklärte. Nach hunderten von Kommentaren, in denen ich verspottet oder beleidigt wurde, folgten auch private Drohungen in meinen DMs. Ich weiß nicht, ob das für irgendwen schockierend ist, vermutlich nicht, aber ich möchte betonen, dass fast alle von diesen motivierten Teilnehmern Männer waren. Und obwohl sie sich auch für die drei-viertel-Hosen Anklage verteidigen könnten, blieben fast alle von ihnen auf den Wörtchen „betrunken und sexistisch“ und dem Thema der Rockmusik hängen. Ich hätte dir wirklich gerne geglaubt, dass du nicht „so ein“ Festivalbesucher bist, @tomfestivalliebe130296, aber dafür hättest du mich nicht unbedingt als „dumme verweichlichte Hipster-Schlampe“ bezeichnen müssen. Das spricht nicht gerade für dich.

Eine kleine Auswahl an Reaktionen

Ich werde jetzt nicht auf jedes Kommentar eingehen. Eigentlich fand ich es witzig, ich saß gut unterhalten am Handy und habe über die Reaktionen gelacht. Kurz gefasst: Ich wurde quasi zum Feind von Rock am Ring, während die wütenden Bauern mich mit ihren Mistgabeln und Fackeln jagten. In meiner Vorstellung erwartet mich genau dieser Mob am Einlass des Festivalgeländes, um mir ein warm gewordenes Dosenbier vor der Nase zu öffnen und mich dann eigenhändig zu bekämpfen. Ich habe darüber nachgedacht, wieso überhaupt solche Zustände unter Musikfans des Festivals herrschen. Neben den klassischen Merkmalen von Eskapismus, die solche Events immer mit sich bringen und zum Verlust jeglichen Anstands und Benehmens führen können, hängt dies für mich auch mit dem Line Up zusammen. Dass Rock am Ring und Rock im Park oft wegen ihrem sehr, sehr männlichen Line Up in der Kritik stehen, sollte allen bewusst sein. Genau darin sehe ich auch die Wurzel meines persönlichen Bauernmobs. Wenn jedes Jahr nur Volbeat, Korn und die Toten Hosen da spielen, dann beeinflusst das auch, wer auf das Festival geht. Und da das Line Up sich jedes Jahr nur wenig bemerkbar wandelt, bleiben auch die pöbelnden Traditionsfans. Sie sind bestärkt und bequem in dem, was sie jedes Jahr kennen und machen. Das ist prinzipiell vollkommen in Ordnung, jährliche Traditionen können auch etwas schönes sein. Aber nicht, wenn sie den Punkt erreichen, dass jede berechtigte Kritik wie ein sprachlicher Terrorangriff behandelt wird. Dass sich die Fans von Miley Cyrus von denen von Papa Roach unterscheiden, ist offensichtlich. Meine These ist also, dass wenn das RaR und RiP Line Up schon seit ein paar Jahren durchmischter wäre, auch das Publikum diverser wäre. Tom und Thorsten würden sehen, dass nicht alle Frauen so schlimm sind wie ich und dass auch Frauen coole Rockmusik machen und ihnen ihre tollen Lieblingsbands gar nicht wegnehmen. Alle würden sich weinend in den Armen liegen! Das wäre schön. Natürlich verfluche ich nicht alles an Festivals und auch bei weitem nicht alle männlichen Rock-Acts. Aber auf dieses Festival habe ich nun zugegebenermaßen keine Lust mehr.

Auch bei einem kleineren Rock-Festival, auf dem ich in diesem Jahr war, stellte ich ein unangenehmes Männer-Publikum fest. Kein Wunder, ich war von morgens bis nachts dort und habe keine einzige Frau auf den zwei Bühnen gesehen. Na gut, eine einzige, die zu dem Zeitpunkt bei einer Männerband jemanden ersetzt hat. Auch die Erinnerungsposter aus den vergangenen Jahren haben meine Vermutung bestätigt: Dieser Tag war keine Ausnahme. Statt coole, neue Artists, vielleicht ja sogar Frauen, zu buchen, bestand das Line Up jedes Jahr größtenteils aus den gleichen rotierenden Ska-Punk-BarfußläufermitBlasinstrument-weißerTypmitDreads-Bands. Verpasste Chance? Ich finde schon.

Um jedoch beim Thema Line Ups zu bleiben, ist mir auch dieses Jahr bei allen Ankündigungen aufgefallen, dass folgendes Kommentar sich jedes Jahr in abgewandelter Form darunter befindet. „Wer soll das sein haha? Kenn ich nicht, was für ein scheiß Line Up.“ Ein @Henrisnowboarder123-Typ möchte uns jedes Jahr mitteilen, dass er seinen musikalischen Horizont konsequent nicht erweitern möchte. Und dass dieser wahrscheinlich in 2013 hängen geblieben ist. Und dass er sich dieses Jahr wieder zum 10. Mal die Beatsteaks statt Nina Chuba wünschen würde, denn wenn er sie nicht kennt, ist sie bestimmt scheiße. Genau diese Einstellung scheinen viele Festival-Herren mit sich zu tragen und jedes Jahr, bei jedem Festival, finde ich solche Henris wieder. Ich wünsche ihnen ein bisschen mehr Freude am Neuen und ein bisschen mehr Geschmack.

Die Malle-Männer

Eine weitere Beobachtung. Dieses Jahr haben so gut wie alle männlichen Acts, zumindest die aus der Indie-Blase und ihrer Umgebung, versucht weibliche Support Acts mit auf Tour zu nehmen. Das freut mich sehr, denn Support Slots sind eben das benötigte Sprungbrett, um die verdiente Aufmerksamkeit zu erlangen und später selbst auf einer großen Bühne zu stehen. Artists und Booker*innen haben dieses Jahr in dieser Hinsicht offensichtlich etwas geleistet. Das Publikum aber nicht so ganz. Erst kürzlich war ich auf dem Konzert einer sehr bekannten und beliebten deutschen Band, der Voract war eine fantastische weibliche Musikerin. Der Auftritt: mega. Die besoffenen Männergruppen im Publikum hatten jedoch wohl mehr Spaß daran „Ach komm, zeig uns lieber deine Titten!“ während des Auftritts der Musikerin in Richtung der Bühne zu rufen. Nachdem das Konzert auch schon leider sehr an der schlechten Organisation litt, hinterließen die betrunkenen Männergruppen einen noch einschlagenderen Eindruck bei mir. Ich brauchte keine 15 Minuten, um nach dem Konzert zu erfahren und zu sammeln, dass die gleiche Art von Leuten auch in anderen Ecken der Halle lauerte. Buhrufe und Aussagen wie „Die Titten sind geiler als die Musik“ standen wohl auf dem Abendprogramm einiger Herren.

Ich bezeichne sie gerne als „Malle-Männer“, das erklärt sich wahrscheinlich von selbst. Übrigens unterstelle ich niemandem davon dumm zu sein. Wenn wir auf dem Konzert der selben Band gelandet sind, haben wir ja wahrscheinlich sogar einiges gemeinsam. Das Problem erschließt sich für mich ähnlich wie mein Rock am Ring Mob. Die beschriebenen Malle-Männer sind es wahrscheinlich so sehr nicht gewohnt eine selbstbewusste, talentierte Frau auf einer großen Bühne zu sehen, dass somit eine Abwehrreaktion folgt. Diese Reaktion ist vollkommen unangebracht und mit nichts zu entschuldigen, aber ich vermute darin liegt ihr Ursprung. Fremd und unbekannt heißt meistens verwirrend und abstoßend. Wenn Malle-Mann Heiko sein Leben lang nur ähnlich aussehende Männer auf der Bühne abfeiert, dann ist er überfordert von der fremden jungen Frau, die jetzt vor ihm steht. „Etwas anders sieht es im Live Bereich aus. Lag der Anteil im Jahr 2010 noch bei 7% konnte für das zusätzlich ausgewertete Jahr 2022 ein Frauenanteil von 16% beobachtet werden“ (Zitat: Fiona Kutscher, No Man’s Land). Wir bewegen uns also immerhin langsam in eine neue Richtung. Dass das trotzdem bei weitem noch nicht genug ist, zeigen mir meine Beobachtungen. Ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, dass Malle-Mann Heiko, geschützt von seinen anderen Malle- Männern, bei jedem anderen Voract, der kein Mann ist, genau so herablassend reagiert hätte. Es lag nicht an der Musik.

Bleiben wir nun bei Malle-Männern. Im August war ich auf einem Hallen Konzert einer anderen beliebten deutschen Indie Band. Ich nenne gerade keine Namen, weil es mir nicht darum geht, über bestimmte Musiker*innen zu sprechen. Diese Erzählungen stehen stellvertretend, denn es hätte sich um fast jede beliebige Band handeln können. Auf dem genannten Konzert war es heiß. Klar, draußen waren 30 Grad und drinnen machte sich schon nach zwei Songs ein Sauna ähnliches Gefühl breit. Während das Konzert voranschritt, tat dies auch die Anzahl der oberkörperfreien Männer. Das führte dazu, dass sich der riesige, mit Spaß erfüllte Moshpit in der Mitte der Halle immer weiter entleerte. Bis bei den letzten Songs ein großes Loch die Mitte der Crowd zierte und sich darin fast nur noch eine Gruppe befand. Richtig, die oberkörperfreien Malle-Männer. Auch vor der Pandemie ist mir der Mangel an T-Shirts auf den Konzerten der selben Band aufgefallen, damals empfand ich es schon als unangenehm. Dieses Mal hab ich noch mehr Probleme darin gesehen. In meiner Beobachtung steckt nämlich, dass diese Männer während des Konzerts alle FLINTA* durch ihr Verhalten aus dem Pit verdrängt haben und ihnen den Raum genommen haben, der ihnen zusteht. Dann kann Malle-Heiko allen beweisen, wie krass und überlegen er im Moshpit ist. Und dass er keinen Fick gibt. Zwischen all den rücksichtslosen, grölenden, schwitzigen Männern fragte ich auch während des Konzerts ein Paar davon wieso sie ihr Shirt nicht anbehalten konnten. Ich bekam, wie erwartet, nur genervte Blicke. Aber auch ich war genervt, denn auch mir war unfassbar heiß. Ich hatte wiederum nicht die Option, mich auszuziehen.

Übrigens beobachtete ich auch, dass wenn eine weiblich gelesene Person Männer auf ihre fehlenden T-Shirts ansprach, es ihnen egal war. Wenn die kurze Konversation von Mann zu Mann passierte, wurde oft Einsicht gezeigt. Klassiker. Nach dem Konzert stellte ich schnell fest, dass ich nicht die einzige war, die das Verdrängen der FLINTA*-Personen bemerkt hatte und denen daran die Lust an dem Konzert verging. Die Band und ich schickten mehrere Stunden lang Nachrichten hin und her. Ich erklärte detailliert was mir an dem Thema liegt und dass ich mir wünsche, die Szene würde inklusiver denken und handeln. Dabei wünschte ich mir auch, dass das Thema kurz auf der Bühne angesprochen wird. Nicht als Verbot, einfach als ein kurzes „Wir wollen dass sich hier alle wohl fühlen. Wenn wir unsere Shirts anlassen können, könnt ihr das auch“. Das wäre in meiner Vorstellung ein guter Schritt gewesen, denn Frauen klären schon lange über diese Themen auf. Allerdings benötigt es meistens (leider) Männer, die etwas sagen, damit andere Männer zuhören. Vor allem in diesem Szenario, wenn es Männer auf einer Bühne sind, die man als Musiker cool findet. Die Band zeigte sich im Gespräch, nach ein paar leider eher widersprechenden Aussagen, doch ziemlich verständnisvoll. Ich bin halbwegs zufrieden schlafen gegangen, in der Hoffnung meine Worte hatten einen Gedankengang bewirkt. Zu mal es sich bei der Band um Musiker handelt, von denen ich sehr viel halte, sowohl musikalisch, als auch menschlich.

Nach einem weiteren Konzert der Band realisierte ich, dass sich nichts verändert hatte. Auch dieses Mal
kontaktierte mich die Band selbst und wir schickten einander einige Texte. Sie wollten aus unterschiedlichen Gründen nichts auf der Bühne dazu sagen. Ich war ein wenig enttäuscht, aber gleichzeitig froh, dass dieser Austausch wohl beiden Seiten wichtig war. Jedoch hatte ich währenddessen das Gefühl, der Band sei es im Kern einfach zu riskant ihre männlichen Fans zu vergraulen. Eigentlich erhoffte ich mir immer, dass sie eine Band seien, die kein Problem hat aus ihrer Komfortzone zu treten. Ich sprach mit einigen Freundinnen und Bekannten darüber, auch mit Freundinnen der Band. Schnell ließ sich erkennen, dass die weibliche Seite der selben Ansicht war wie ich. Als Ergebnis dieses Gespräches erstellte die Band Schilder, die sie bei den restlichen Konzerten an den Einlass hängte. Darauf wurde gebeten, sich respektvoll zu verhalten und auch seine T-Shirts anzubehalten. Wenn die Schilder, meiner Bedenken nach, missachtet werden sollten, sagen sie doch etwas auf der Bühne dazu, wurde mir beteuert. Irgendwann fühlte ich mich seltsam, wie eine kontrollierende, strenge Lehrerin, was nie meine Absicht war. Andererseits weiß ich, dass sich nichts ändert, wenn man nicht immer und immer wieder darüber redet. Erzählungen zufolge sagte diese Band vor kurzem auf einem sehr großen Konzert zum ersten Mal auf der Bühne, man solle T-Shirts anbehalten, in dem selben Kontext, dass man aufeinander Acht geben soll. Auch das Management erklärte auf Nachfrage, dass dies als Schlussfolgerung von vielen Gesprächen mit Freund*innen und Fans resultierte. Ich weiß, man darf das Große nicht aus den Augen verlieren. Es wird trotzdem tausende Konzerte bei anderen Bands mit unangenehmen, Dominanz demonstrierenden Männern im Publikum geben. Aber trotzdem freut es mich, dass diese Geschichte nicht als hoffnungsloser Fall, sondern sogar im Nachdenken und Handeln endete.

Ein weiteres Beispiel ergab sich, als mich kürzlich ein Bekannter am Tag nach einem Konzert fragte, ob ich es auch so gut fand wie er. Ich bejahte, erwähnte aber auch kurz, dass ich den Leadsänger als unangenehm empfand. Er spielte die Show oberkörperfrei, mit sexuell angedeuteten Dance-Moves und betonte auf der Bühne unter anderem, dass er sich immer über die vielen „sexy females“ im Publikum erfreut. Mein Bekannter verstand meine Wahrnehmung nicht, er fühlte sich von meiner Bemerkung offensichtlich beinahe selbst angegriffen. Eigentlich habe ich aber nicht verstanden, wieso ich mich als einfacher Fan der Musik dieser Sexualisierung und Bewertung des Sängers unterziehen musste. Ich hab genauso wie mein Bekannter die Songs mitgebrüllt, ich bin genauso im Moshpit rumgesprungen, ich habe genauso geschwitzt. Aber ich bin eine Frau. Im Verlauf des Jahres fand ich mich oft in verschiedenen Situationen wieder, in denen ich mit Männern über dieses Thema diskutieren musste. Wobei ich das nicht musste, sondern wollte. Sei es mit Freunden von Freunden oder Beteiligten von Festivalorgas. Von Aussagen wie, dass ich nie wieder zu Festivals gehen soll, zu ich gehör nicht auf „härtere“ Shows, denn „dort war es einfach schon immer so“. Ist es denn nicht diskriminierend gegenüber Männern, dass ich von ihnen verlange, sich einzuschränken? Die wahrscheinlich am häufigsten gestellte Frage. Nein, ist es nicht.

Die blickdichten Wände

Vor kurzem habe ich im Club den DJ gefragt, ob ihm bewusst ist, dass die Band, die er gerade spielt, Anschuldigungen zu sexuell übergriffigem Verhalten an sich trägt. Die Reaktion hätte natürlich schlimmer sein können. Er behauptete immerhin, dass er das weiß und bloß in diesem Moment vergaß. Es täte ihm Leid. Aber! Natürlich hängte er am Ende der Aussage an, dass man „sowas ja nicht beweisen kann“ und da “auch oft gelogen wird”. Statistiken beweisen, dass dies nur in den aller wenigsten Ausnahmefällen zutrifft. Ich versuchte es kurz zu erklären, aber gab schnell auf und holte mir einen Gin Tonic. Dort, wo Männer andere Männer schützen und Tätern einen Raum geben, dort sind sie von starren, blickdichten Wänden umgeben. Diese Wände zu durchbrechen, ist mein großer Wunsch. Manchmal liefen die Gespräche, die ich führte, einsichtig, manchmal stieß ich nur auf sture Ablehnung. Aber eins hatten diese Gespräche immer gemeinsam: Sie waren kräftezehrend. Ich habe in diesem Jahr bemerkt, wie viel Energie es raubt, Männern jedes mal die selben Dinge zu erklären. Jedes Mal überhaupt zu sagen, dass es sich hier um ein Problem handelt. Jedes Mal verbal darum zu kämpfen, dass meine Gefühle auch eine Daseinsberechtigung haben, ohne zu sehr anecken zu wollen. Jedes Mal zu erläutern, dass ich nicht die einzige bin, der es so geht und dass es sich lohnt, mal etwas weiter zu denken. Ich habe keine Lust mehr darauf.

Ich habe keine Lust mehr darauf, dass man immer die gleichen unangenehmen Geschichten über Männerbands miterlebt oder hört. Ich habe keine Lust mehr darauf, dass ich mich damit zufrieden geben muss, dass es ja in anderen Bubbles „noch viel schlimmer sei“. Ich habe keine Lust mehr mich unwohl und unterlegen zu fühlen. Ich habe keine Lust mehr zu sehen, wie andere wegsehen. Die kleinen Geschichten, die ich hier aufschreibe, sind nur ein winziger Teil. Sie sind nur ein winziger Teil meines Jahres, ich könnte noch viel mehr erzählen. Aber auch ein winziger Teil von großen Problemen. Es waren Momente, die mir als besonders ernüchternd im Kopf geblieben sind. Ich weiß auch, dass es naiv und unrealistisch ist, zu glauben, dass sich etwas davon durch durch den Jahreswechsel ändert. Aber ich möchte es trotzdem. Ich habe es jedes Mal sehr deutlich wahrgenommen, wenn ich beispielsweise eine junge Tourmanagerin im Backstage gesehen habe. Das fällt mir auf, das bleibt bei mir hängen. Jede dieser FLINTA*, die in der männlich dominierten Musikszene aktiv ist, ist ein Vorbild für mich. Sie sind alle für einander gegenseitige Vorbilder, wenn auch nur unbewusst. Orte und Bereiche, in denen mehr von diesen Personen anwesend sind, sind offener und verständnisvoller. Auch das habe ich deutlich beobachtet. Der dunkle Raum mit den blickdichten Wänden, den ich erwähnt habe, wird einzig und allein durch die Präsenz von FLINTA* Personen durchbrochen. Selbst, wenn es nicht ihre Absicht ist, politisch und kritisch zu handeln oder aufzuklären. Ich wünsche mir das Gegenteil des blickdichten Raums. Einen, in dem mehr Realitäten als nur die des weißen cis Mannes aufeinander treffen. Einen, in dem Strukturen gelöst und neu zusammen gesetzt werden. Einen, in dem Menschen einander zu hören, reflektieren und realisieren. Denn dort, wo Männer nicht nur geschützt und umgeben von ihren Bros sind, ändern sie auch ihr Verhalten. Wäre das nicht ein Gewinn für alle?

Für 2023 wünsche ich mir, dass ich wieder mehr Begeisterung verspüren kann und nicht ständig mit dem Gefühl des „ich habe keine Lust mehr“ Heim gehe. Ob ich das schaffe, ist nicht nur von mir abhängig.

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