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“I’m stronger now that I’m softer too” – pure und emanzipiert in Alice Phoebe Lous neuem Album

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Es ist bereits das sechste Album der südafrikanischen Musikerin, die hier in Berlin seit langem schon eine feste Größe im Indie-Pop ist. Alice Phoebe Lou bespielt Orte von baumbeschatteten Plätzen des Treptower Parks in Berlin, kleinen bis mittleren Clubs in Japan, Kanada und den USA bis hin zu Festival-Großbühnen wie dem Primavera Sound in Barcelona. Ihre neue Platte Oblivion“ wird einem intimen Rahmen wohl wieder eher gerecht als der gefühlt endlosen Weite einer Festivalbühne. Verwundern würde es jedoch nicht, wenn Alice auch in dieser Weite Intimität entstehen lässt.

Alice Phoebe Lous Einstieg ins Album mit “Sailor” gibt direkt den Kurs vor, den das Album segeln wird. Pure, reduziert, ehrlich und zart – Sailor ist ein kurzes Lied über Liebe ohne klassischen Aufbau, aber mit klassischen Alice-Ideen hier zum Beispiel eine Zither einzubringen. Auch wenn man bei Alice Phoebe Lous Liedern über Liebe an das “Glow”-Album denkt, merkt man schnell, dass dieses Album die Segel anders setzt.

“Pretender”, das zweite Lied des Albums, welches bereits im Juli als Single herauskam, ähnelt dem ersten Titel in Länge und Aufbau. Spätestens jetzt wird klar, dass sich hier jemand mächtig aus vergangenen Dynamiken emanzipiert hat. In fünf Versen schafft es Alice, eine Reflexion zu skizzieren, in der man fast jede Zeile zitieren könnte.

“I’m stronger now that I’m softer too. I’m older now but I feel younger than when I pretended to know everything”

Beim näheren Hören des Albums hatte ich immer wieder den Eindruck, ihren Prozess erzählt zu bekommen, und zwar in der Rolle als beistehende Freundin. Das, was sie da in ihre Texte gepackt hat, ist dennoch und vor allem ein Dialog mit sich selbst. Vielleicht gewinne ich deshalb den Eindruck, Teil dieser Intimität zu sein, die ich sonst nur aus Deep-Talk und Emo-Talk mit Freund:innen kenne. Sie nimmt mich mit in die Prozesse zu sich selbst und ihren Beziehungen.

Mit “Mind Reader” geht sie in die Beziehungsdynamik rein, sucht die Konversation und nimmt dabei aber eine erfahren reflektierte Distanz mit liebevoller Grenzbeschreibung ein – meine Therapeutin wär stolz. Gefolgt von “Sparkle”, was uns noch einmal auf liebevolle Art und Weise einlädt, ihr zuzuhören, welchen Wandel sie durchgemacht hat, um jetzt sagen zu können:

“But the worst advice that I’ve gotten from the world was to never change. I won’t be staying the same”

Man hört hier, dass äußere Ansprüche an sie herangetragen wurden, von denen sie eine Abkehr gefunden hat. Textlich sehr scharf und assoziativ formuliert, eingepackt in rustikalen Klavierklängen, macht es wahnsinnig charmant.

“If you should see me as I sparkle in the night, don’t be a fool, it’s not for you, it is for the divine”

Die beiden letzten Tracks haben mich textlich so weit in die Insights geführt, dass ich danach fast schon einen Bruch erwartet hätte. Dieser Bruch kommt auch, allerdings erst mit “Oblivion”, der Titelnummer 6. Es erinnert an “Galaxies” aus dem Album “Paper Castles” von 2019 – ein Rückblick? Andererseits erinnert es auch an ein Präludium von Bach (different vibe though) und klingt wie ein Vorspiel, vielleicht sogar der Beginn von etwas Neuem? Ich gerate ins Spekulieren, bin aber großer Fan von dieser Zäsur in der Mitte des Albums. In den Notizen, die ich während des ersten Hörens schrieb, steht ‘die Eingebung’ und daneben das Wort ‘Gefühl’ neben einer gezeichneten Spirale. Es ist nicht ganz offensichtlich, worum es genau geht. Es wirkt mehr wie eine Art Traum, in dem sie sich selbst begegnet ist. Dennoch hat es auch etwas Verletzliches an sich und steht im Kontext zur Welt. “Oblivion” ist mein persönliches Highlight des Albums, immer noch typisch Alice Phoebe Lou, aber musikalisch trägt es eine ganz andere Handschrift als die anderen Songs des Albums.

Wer mitgezählt hat, stellt fest, dass ich einen Titel übersprungen habe. Kuratorisch gefällt mir hier “The Surface” leider nicht so gut zwischen “Sparkle” und “Oblivion” und reiht sich dennoch nicht ungewollt in die dialogisch gestalteten Songs ein. “The Surface” sucht die Konversation mit der vielleicht Beziehungsperson und ringt nach einem Gesehenwerden. Sie zeigt sich klar geöffnet und froh über die Veränderungsprozesse. Nun liegt der Spielball beim Gegenüber und Alice reicht wohlwollend ihre Hand. Die Begleitung mit der Akustikgitarre unterstützt hier sehr wärmend und liebevoll, ohne die Forderungen zu entkräften. “You and I” ist hier ein guter Anschluss an eine ähnliche Dynamik und wirkt noch direkter und zieht klare Grenzen.

“And if you wanna go on loving me, you better show it, don’t keep it to yourself”

Wobei die Antwort im darauffolgenden Song Old Shadows lautet: “Sharing it with me and it takes some to get used to“, aber hey, jede Liebesdynamik trägt ‘alte Schatten’ mit sich herum. Alice zeigt sich auch hier wieder sehr ehrlich und benennt ihre eigenen “old patterns”, die sie in You and I vielleicht schon an der anderen Person kritisiert hat. Ich nehme mit: Liebe ist nicht immer das, was man von ihr erwartet, und bedeutet vor allem Arbeit. Auch Verletzlichkeit spielt eine große Rolle und das hört man auch musikalisch heraus. Im Gegensatz zu “You and I” singt Alice in “Old Shadows” viel zarter und mit höherer Stimme.

“Sunny with a high chance of rain”

In “Darling” zeigt sich dann der Himmel wolkenlos. Textlich klingt es sehr verliebt, und das sei ihr nach so viel emotionaler Arbeit doch gegönnt.

Foto: Caroline Bertolini

“See that’s just how it works when love is on your side”

“Skyline” und “With or Without” finden für mich kuratorisch leider nicht so viel Platz in dem Segelboot, aber vielleicht tut dem Album auch ein weniger kitschiges Ende eigentlich ganz gut.

In diesem Album zeigt sich ganz klar, dass Zartheit und Stärke in keinem Widerspruch stehen müssen. Wie auch in vielen ihrer anderen Lieder nimmt uns Alice Phoebe Lou mit in ihr Inneres, und das trägt in diesem Album nun Früchte – Früchte, die nach Autonomie, Selbstbestimmung und Veränderung schmecken. Dieses Album wäre nicht, was es ist, wenn es die alten Alben nicht gäbe. Liebe Alice, nimm uns gern weiterhin mit auf deine Reise mit neuen Zielen.

Foto: Caroline Bertolini

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