4 Jahre musste ich warten, bis mich Ben Howard wieder mit neuen träumerischen Songs verzaubert. Als ich mal wieder durch seine Diskografie gestöbert habe, war ich erstaunt, dass es schon so lang her ist. Ich erinnere mich als wäre es gestern gewesen: Ich sitze mit offenem Mund in Brüssel und starre live auf das, was Ben Howard auf die Bühne gebracht hat. Es war so wunderschön, ich war sprachlos. Und das ist jetzt auch schon über 2 Jahre her! 😭
Mit seinem doch kontroversen letzten Release kehrt er jetzt irgendwie zu seinen Singer-Songwriter Wurzeln zurück, aber dann auch wieder nicht. „Collections From The Whiteout“ ist eine Mischung aus allem Vorherigen, das macht es auch so interessant.
Probieren geht über Studieren
Ich persönlich fand Noonday Dream genial, weil es so anders war. Weil er so einen krassen Schritt gegangen ist und keine Angst vor Experimenten hatte. Und das, wenn man auf jedem Konzert ‚Spiel Keep Your Head Up‘ gegen den Kopf geschrien bekommt. Wenn man sich gerade so sehr aus der 08/15 Singer-Songwriter Zwangsjacke befreien will. Und diesem Druck muss man erst mal den Mittelfinger entgegenhalten.
Der overall Vibe vom neuen Album lehnt wieder sehr am letzten an, aber überrascht mit fast schon richtigen Folk-Songs wie „What a Day“ und „Far Out“. Okay, das ist vielleicht doch etwas übertrieben. Die mittlerweile unverkennbare Handschrift von Ben Howard hat auch noch was zu melden. Mit seinen verzerrten Klängen, dem Mut, traditionelle Songschemata zu brechen, und Howards einzigartigen Stimme, versetzt „Collections From The Whiteout“ mich in eine Art kathartischen Mittsommernachtstraum.
Storytelling at its best
Howard experimentiert weniger mit dem eigentlichen Sound (den Schritt hat er bereits mit „Noonday Dream“ gemacht), sondern mehr mit seinem Storytelling und der Aufgeschlossenheit für Kollaboration. Zusammen mit Aaron Desser von The National – momentan in aller Munde – und vielen anderen Artists wie Phoebe Bridgers oder Rob Moose, der viel mit Bon Iver zusammengearbeitet hat, erzählt er von bizarren Geschichten aus der Öffentlichkeit. Die teilweise aber auch eine persönliche Reflektion seinerseits veranlassen.
Ben Howard (2021)
„I wanted to write a concept record, but I got distracted.“
In „Crowhurst’s Meme“ singt er über den ungeklärten Tod vom Segler Donald Crowhurst, der seinem Betrug während eines Segelwettbewerbs entfliehen wollte und am Ende vermutlich Suizid begangen hat. Seine Leiche wurde nie gefunden. Howard verbindet schräge Klänge und Zickzack Tempo, um den Zwiespalt des Seglers widerzuspiegeln. Aber bricht im Chorus damit, der fast schon wirkt, als würde man auf See schweben.
Er bewegt sich weg von tief persönlichen Anekdoten und sympathisiert mit Geschichten aus den Nachrichten, die so sonderbar sind, aber ihn gleichzeitig extrem faszinieren. „Finders Keepers“ handelt davon, wie ein Freund seines Vaters eine Leiche in einem Koffer in der Themse gefunden hat. Wie der Name schon sagt, geht es in „The Strange Last Flight of Richard Russell“ über Richard Russell, der 2018 ein Flugzeug gestohlen hat und dieses zum Absturz gebracht hat. Er beging alleine Pilotensuizid. Die Protagonistin von „Sorry Kid“ ist Anna Sorokin, die 2019 wegen Hochstapelei verhaftet wurde. Sie hatte sich als Tochter eines deutschen Millionärs ausgegeben, um am New Yorker High Society Leben teilzunehmen.
Half a life is half in dream
In anderen Songs mag der Fokus nicht auf realen Geschichten aus den Nachrichten liegen, aber jeder Song trägt Elemente von Storytelling mit sich. Jedenfalls spielt sich bei mir zu jedem Song eine Art Kurzfilm in meinem Kopf ab. Man fühlt sich direkt in die mediterranen Wälder Ibizas versetzt, wo das Album zu einem großen Teil entstanden ist. Howard beschreibt einen seiner Tagträume in „Sage That She Was Burning“ so:
“Hyacinth evening
Rattling the breeze in
We go swimming”
Ein weiteres Beispiel dafür ist mein absoluter Liebling auf der Platte: „Rookery“. Ich kann nicht anders als mir vorzustellen, ich würde mit meinem Großvater auf zwei Klappstühlen hinausblickend auf eine wenig bewachsene, wüstenartige Landschaft in Ibiza starren, und er erzählt mir, wie sein Herz zum allerersten Mal gebrochen wurde. Vielleicht etwas melodramatisch, aber das macht diese simple Kombo aus Ben Howard und seiner Akustikgitarre mit mir.
“I bet you think everything’s in its rightful place
That sentiment is man’s disgrace”
„Collections From The Whiteout“ schafft eine perfekte Balance aus den typischen verzerrten Synths und den leichteren folkigen Sounds aus früheren Werken – wie auch in „Metaphysical Cantations“ und „Make Arrangements“.
Das Sehnen nach fernen Sonnenstrahlen
Zuletzt zu den Standout-Songs der Platte, die den Mainstream wahrscheinlich am ehesten ansprechen werden. Weil sie nun mal mit ihren unbeschwerten sommerlichen Sounds mehr an die Debutplatte „Every Kingdom“ erinnern. Wieder versetzen mich „What A Day“ und „Far Out“ nach Ibiza. Ich sehe mich, wie ich durch die Landschaft laufe und mir die Hand vors Gesicht halten muss, weil mich die Sonne so blendet. Würde ich in den Ruhestand gehen und mich in ein warmes Land verziehen, wo ich die Tage damit verbringe, auf meiner Veranda die Welt beim Vorbeiziehen zu beobachten, wäre das genau mein Soundtrack. Vielleicht nicht gerade das, was Ben Howard über sein neuestes Werk hören will, aber dann warte ich halt nicht bis zur Rente. 😄
Endlich angekommen
Ich finde Ben Howard ist einer der interessantesten und talentiertesten Songwritern momentan, der genau weiß, was er macht. Sein zwangloses Spiel mit Melancholie und Leichtigkeit versetzt einen in eine andere Zeit, die sogleich unbeschwert wie schwermütig ist. Und genau das ist es, was Ben Howard so besonders macht. „Collections From The Whiteout“ wirkt, als wäre er endlich da angekommen, wo er hinwollte.
Ben Howard (2021)
„I feel comfortable at the moment in terms of finally understanding what I do. Before I was just exploring things and not understanding what I did as a songwriter and not having any composure with it. […] Now I feel more confident of being able to run with ideas. I feel quite happy to explore weird ideas.“
Ein weiteres Mal bricht Ben Howard aus der Singer-Songwriter Schublade aus und entwickelt sich kreativ weiter. Das macht ihn meiner Meinung nach zu einem wahnsinnig interessanten Künstler. Einen Vorgeschmack hat er uns schon auf seinem Meisterwerk „I Forgot Where We Were“ gegeben und er sprengt kontinuierlich die Grenzen seiner Musik. Lasst euch auf diese sonderliche und gleichzeitig faszinierende Welt ein und hört in das neue Album „Collections From The Whiteout“ von Ben Howard rein.
Fotocredits: Roddy Bow, @michadanger