Es ist 16:30 Uhr und stockduster in Berlin. Eine Kerze brennt auf meinem Wohnzimmertisch, es riecht nach Pumpkin Latte und durch meine Kopfhörer tönt Frankie Stew and Harvey Gunn – nur ein Album von so vielen, das mein Jahr geprägt hat. Book Smart ist der erste Song, den ich Anfang des Jahres auf Dauerloop gehört hab und der mich in die komplett verzaubernde Welt der beiden Briten gezogen hat. Es hittet einfach zu sehr: “I’m nearly 30, shit. Maybe I should quit, Maybe I should not do this.”
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…maybe I should? Das frag ich mich seit Jahren. Zwischen Berufswechseln und Burnouts chille ich nun ein Weilchen schon in diesem Vakuum in der Mitte von Dingen und weiß nicht so Recht, wohin oder woher. Doch eins bleibt über die Zeit eine Konstante und wird es auch weiterhin bleiben: die Liebe zur Musik. Ob auf Alben, Konzerten oder im Maileingang von untoldency – 2024 hielt mich Musik bei Sinnen. Es gab dieses Jahr so viele Songs und Alben, die sich in meine Identität gegraben haben, als würden sie schon ewig dort leben. Also wirklich so viele! Wenn ihr wollt, werd ich euch einige davon hier vorstellen. Wenn ihr nicht so viel lesen wollt, könnt ihr sie hier hören. Beides geht auch, klar, und keins davon eh.
“I don’t wanna backslide“
Auch wenn dieser Artikel und die Playlist mit Booksmart starten, ist er nicht mein meistgehörter Song des Jahres. Diese Trophäe geht an, suprise suprise, Twenty One Pilots. Und das absolut zu Recht! Ich hab mich dieses Jahr nicht in Chapell Roan oder Sabrina Carpenter verliebt (sorry), sondern stattdessen meine ewigwährende Liebe zu Tyler Joseph und Josh Dun vertieft. Für die Personen, die mich kennen, wird das absolut keine Überraschung sein. Für die unter euch, die einen meiner Twenty One Pilots Deep Dives gelesen haben, wahrscheinlich auch nicht. Für mich ist die Band aus Ohio, Columbus eine der most underrated Bands überhaupt. Obwohl sie Arenen ausverkaufen und Festivals headlinen, ist für die meisten das Universum, das Tyler und Josh mit jedem Aspekt ihrer Musik erschaffen, völlig unbekannt. Wer ist Clancy? Was ist Trench? Wieso hat der Sänger schwarze Farben auf seinem Hals und Händen? SO VIELE FRAGEN und mindestens genau so viele Antworten.
Das letzte Mal, als ich ausführlich über die Storyline der Alternative Band philosophiert hab, war im März zu ihrer ersten Singleauskopplung Overcompensate. Ich werde noch die Zeit finden, die Theorien, Fakten und Gefühle zum neuen Album schriftlich festzuhalten. Dass ich das in dem halben Jahr seit Albumveröffentlichung nicht geschafft habe, zeugt davon, wie verschlungen ich vom restlichen Leben war. Schnell auf die Hand empfehlen kann ich euch: Backslide, Routines In The Night, Snap Back und At The Risk Of Feeling Dumb. Mit meilenweitem Abstand gewinnt hier aber Backslide. Auf Platz 1 von meinem Spotify Wrapped gekrönt ist es der eine Song, der mich seit Monaten emotional komplett durchwirbelt. Egal, wie oft ich ihn höre oder wann er zufällig angespielt wird, ich gebe meine ganze Seele diesem Song. Der Aufbau, die Lyrics, der musikalische Switch, die Verzweiflung – alles ist perfekt. Und wahnsinnig schwer zu beschreiben. Also hört einfach selbst:
Kirschblüten vs. Winterdepression
Dass Clancy mein Top-Album 2024 wird, war schon klar, bevor es überhaupt veröffentlicht wurde. Ein weiteres Album, das ganz weit oben auf der Liste gelandet ist, ist das Debütalbum des palästinensischen, französischen, algerischen und serbischen Künstlers Saint Levant. In Gaza aufgewachsen, hat er mit seiner Debüt-EP From Gaza, With Love den ersten internationalen Durchbruch erreicht. Saint Levant singt auf Englisch, Französisch und Arabisch und schafft auch was Genres angeht eine so spannende Mischung, dass ich ihm komplett verfallen bin. Sein Debütalbum DEIRA war mein Türöffner für mehr arabische Musik in 2024, etwas, das ich euch wirklich sehr ans Herz legen kann. Es ist Wahnsinn, wie sehr einen etwas berühren kann, was man nicht versteht.
Was ich verstehe, ist der Hype um Fontaines D.C. – die Band aus Irland hat mit ihrem neuen Album Romance und der dazugehörigen Tour alle in meinem Umfeld mitgerissen. Bei mir lief im durchwachsenden April vor allem Starbuster auf Dauer-Repeat, abgelöst von WILLOWs run! Beide Songs haben meine Winterdepression in Schach gehalten, bis sie langsam den aufblühenden Kirschblüten gewichen ist. Das erste Mal die Jacke in der wärmenden Sonne ausziehen ist und bleibt für immer einer der besten Momente im Jahr. Und wenn dann so ganz unerwartete Songs wie Nukho von niemand anderen als Comedy-King Teddy Teclebrhan in der Playlist landen, werden ganz andere Glücksgefühle wach.
Generell hab ich mich dieses Jahr weiter in Afrosoul und Afrobeat verloren. Genres im Deep-Dive von Künstler*innen zu entdecken, ist eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. Falls ihr auch mal einen Abstecher machen wollt, kann ich euch Artists wie Juls, June Freedom, Tems, Tyla, CKay, Tim Lyre sehr empfehlen – fast alle mit einem neuen Album! Ich sags ja, es gab 2024 wirklich so viele gute Alben.
Hit me hard and soft, please.
Darunter auch, ich könnte sie nie vergessen, Billie Eilish. Mittlerweile eine völlige Ikone und ohne weitere Erklärung hält ihr neues Album HIT ME HARD AND SOFT alle Versprechen. Songs wie CHIHIRO, BIRDS OF A FEATHER oder BITTERSUITE schlängen sich durch ihren gesamten Aufbau durch jede emotionale Barriere und lassen einen atemlos zurück. Für mich allein nur deshalb eines der absoluten Highlights des Jahres, weil Billie vor Album-Release keine einzige Single veröffentlicht hat. Und für dieses Erlebnis, das Album wirklich von vorne bis hinten als eine Sammlung komplett neuer und unbekannter Songs zu erfahren, bin ich ihr sehr dankbar. In dem Sog aus wöchentlichen Releases vergisst man schnell, wie es ist, Alben als die Gesamtwerke wahrzunehmen, die sie sind.
Ebenfalls komplett aus dem Nichts kam Ende November Kendrick Lamar mit seinem neuen Album GNX. Es heißt, nicht mal das Label hatte was vom Album gewusst bis kurz vor Veröffentlichung. Es braucht seine Zeit, die Gänze und Tiefe von Kendricks Alben zu erfassen. Klar ist aber, dass wenn die ganze Drake/Kendrick – Debatte bis hier noch keinen klaren Abschluss gefunden hatte, es spätestens mit diesem Album ganz eindeutig ist, wer den amerikanischen Hip Hop dominiert.
(So halb) fließende Überleitung zum nächsten Song, der mich in den letzten Wochen komplett umgehauen hat: Kennedy Space Center von der Americanism-EP von Post Punk-Duo GAST. Ich hab die beiden auf ihrer ersten Tour live sehen können und bin jetzt noch überzeugter als davor, dass wir hier gerade die Anfängen von etwas ganz Großem beobachten. Die Verzweiflung übers Leben und die Sehnsucht nach Mehr ist in jedem ihrer Songs so unfassbar spürbar, dass man sich am liebsten in den Sound legen und nicht mehr aufstehen möchte. Es hilft vielleicht nicht gegen die grauen Wintergedanken, aber es gibt ihnen immerhin den richtigen Soundtrack.
Purer Balsam für die Seele: WEZN
Ebenfalls in diesen Soundtrack eingereiht hat sich dieses Jahr bei mir All I Have von RY X und das Debütalbum von Singer-Songwriter Mustafa. Und, Wundermittel gegen jedes Wetter und purer Balsam für die ganze Seele: WEZN. Auch wenn sie in diesem Jahresrückblick evtl. ein wenig untergehen, (ich hoffe, jemand von euch liest hier noch mit?), sind sie vielleicht der bedeutendste Teil meines Versuchs, dem Leben mithilfe von Musik einen Sinn zu geben. Das klingt düsterer als es ist, aber die noch fairerweise kleine Band aus Hannover ist der Grund, warum ich nie aufhören werde, nach neuer Musik zu suchen. Es gibt einfach SO VIEL unbekannte Musik da draußen, die darauf wartet, entdeckt zu werden. Bands wie WEZN zuzuschauen (und in meinem Fall direkt mitzuhelfen) wie sie größer werden, hat mir in diesem Jahr so viel mehr Energie und Motivation gegeben, als sie es selbst vielleicht wissen. Hier hab ich schon mal versucht zu beschreiben, was genau WEZN ausmacht. Aber weil die Musik selbst sowieso immer mehr überzeugt als reine Worte, könnt ihr euer ganzes Herz hieran verlieren:
WEZNs Debütalbum Meet Me In The Middle ist deshalb nicht nur Namensgeber für meinen Jahresrückblick, sondern irgendwie auch für das ganze Jahr. Ich arbeite immer noch auf Nachtzügen nach Stockholm, buche aber nicht mehr die Tour meiner Lieblingsband. Dafür manage ich sie! Ich bin umgezogen, hab mich verliebt, war auf Demos und vielen Festivals, und wurde mir mal wieder sehr vieler meiner eigenen Privilegien bewusst und wie wichtig es ist, sich immer weiterzubilden. 2024 war ein sehr intensives Jahr, Räume für Kultur werden chronisch weggekürzt und universal geglaubte Menschenrechte muss man auf einmal rechtfertigen. Sich zwischen all dem, was in der Welt schief geht, nicht zu verlieren, sondern sich halbwegs glücklich durchs Leben zu navigieren, ist für uns alle jedes Jahr aufs Neue eine Herausforderung. Dieses Jahr war ein wahres Auf und Ab, und in all dem hat mich Musik begleitet. Wenn ihr wollt, könnt ihr hier in eine kleine Auswahl reinhören:
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Achja, und: Free Palestine 🇵🇸