Alt-J veröffentlicht ein neues Album. Es heißt „The Dream“. Das muss man sich doch erstmal auf der Zunge zergehen lassen. Ich meine, wie oft wird das in unserem Leben wohl noch passieren? Wie oft dürfen wir davon noch Zeuge werden? Bisher ist es vier Mal passiert und ich für meinen Teil bin froh, jede Sekunde dabei gewesen zu sein.
Alt-J. Das ist mehr als eine Band für mich. Ich glaube, das ist meine Jugend. „An Awesome Wave“ haben wir damals auf dem Schulhof gehört. Zu zu dritt, zu viert, mit einem Paar Kopfhörer. Wir prügelten uns darum, weil wir nicht fassen konnten, was da auf unseren iPods gelandet war. Wir haben mit unseren Patschefingern Dreiecke geformt und die A-Capella Parts leidenschaftlich und schief nachgesungen. Dann das erste Mal alt-J live, als Vorband von Two Door Cinema Club. Als Vorband! Könnt ihr euch das vorstellen? Wir waren so glücklich damals.
Auch nach ihrem Debüt 2012 kamen mit „This is All Yours“ und „Relaxer“ monumentale Werke, die immer mehr Facetten einer unglaublich kreativen Band hervorgebracht haben. Und jetzt, erschreckende zehn Jahre nach Release ihres ersten Albums, erscheint ihr wahrscheinlich bisher Bestes: „The Dream“.
Was erwartet uns? Hmm, ich habe mich natürlich im Vorfeld oft gefragt, wie das neue Album wohl klingen wird. Bisher hatte mich die Band von Album zu Album mehr überzeugt, ohne dass die Vorgänger an Qualität verloren hätten. Alt-J war immer modern, immer dem Zeitgeist voraus, immer ein Trendsetter. Und so soll es jetzt wohl auch weitergehen, denn das neue Album klingt zwar wieder ganz anders — und doch so sehr nach ∆.
Ihren Signaturesound haben sich die drei Briten jedenfalls bewusst behalten. Allerdings klingt ihr Schlagzeug lustigerweise diesmal auch manchmal wie ein Schlagzeug, und nicht wie eine aus Töpfen und Pfannen zusammengebastelte Schießbude. Gitarren und Keyboards gibt es auch heute wieder in Hülle und Fülle, oft bis ins kleinste Detail auskomponiert. Und natürlich bekommen wir auf „The Dream“ ein paar Leckerbissen des unverwechselbaren Chorgesangs von Joe Newman und Gus Unger-Hamilton.
It’s just you and me now
Doch fangen wir von vorne an. So ein Album lässt sich Zeit. Deshalb starten wir, genau wie die Band, mit der ersten Single. Zugegeben — bevor „U&ME“ erschien, hatte ich lange Zeit nicht mehr an alt-J gedacht. Diese neue Single erwischte mich eiskalt, sie war einfach eines morgens da. Ich muss auch zugeben, dass mich „U&ME“ anfangs so gar nicht gecatched hat. Irgendwie klang es für mich so seltsam herkömmlich.
Wo war der Sound hin? Wo waren die krassen Drops, die unerwarteten Wendungen? Und dieses Video dazu; eine etwas uninspirierte Szene im örtlichen Skatepark. Alles irgendwie so 15 Jahre vorbei. Vielleicht gerade deshalb so geil? Irgendwie gefiel mir die ganze Ästhetik von Mal zu Mal besser. Ich kann es mir nicht so recht erklären. Denke aber, irgendwer muss ja damit anfangen, Trends wieder auszugraben. Sonst würden wir ja heute auch keine boot-cut Jeans oder Arschgeweihe mehr tragen (like wenn du eins hast).
Klick hatte es bei mir erst dann gemacht, als ich die Single ein paar Tage später im Radio hörte. Das Intro erklang und mein Gehirn direkt: „Fuck! Was ist das denn nochmal?!“ Ich bekomme deswegen wirklich häufig Panik, wenn mir nicht direkt Titel oder Interpret einfällt. Das war ein halber Schweißausbruch (horizontal) in einem Bruchteil von Sekunden. Als Joes Stimme einsetzte war klar, dass diese Single allen anderen alt-J Classics in nichts nachstehen wird. Und ohne, dass ich es wusste oder wollte, hatte ich mich in diese Single verknallt. Sie haben es mal wieder geschafft.
Keine hippen Roboter
Ich finde es irgendwie beruhigend, dass alt-J doch im Endeffekt ganz normale Dudes zu sein scheinen. Denn sie huldigen im Opener „Bane“ nicht etwa Cold Brew Coffee oder Mate-Tee aus ausgehöhlten Kürbissen, sondern ganz ordinärer, industrieller Coca-Cola. Das ist doch mal bodenständig. Ich habe dazu auch noch vor Augen, dass sie vor etwa fünf oder sechs Jahren (vielleicht auch länger her) ein Foto von einem RIESIGEN SCHINKEN (ehrlich, ein halbes Schwein locker) aus dem Tourbus gepostet hatten — gerade als die große Welle der Lifestyleveganer zu brechen begann. Da hagelte es Hasskommentare. „Bodenständig“ und „geschmacklos“ mag hier nah beieinander liegen, ich find’s aber irgendwie sympathisch.
Wie ich im exklusiven untoldency Interview meiner lieben Kollegin und Magazinchefin Anna nachlesen konnte, gibt es auch eine Referenz zu diesem ersten Track. Referenzen und kleine Easter-Eggs sind tatsächlich bei alt-J nichts ungewöhnliches, dennoch macht es immer wieder Spaß, diese zu entdecken. Wer sich in seiner Jugendzeit mit Heavy Metal beschäftigt hat (oder es vielleicht immer noch tut), wird den Wink mit dem Zaunpfahl auch direkt bemerkt haben: Black Sabbath, is that you? Und tatsächlich, Drummer Thom Green nennt den Song „Planet Caravan“ einen direkten Einfluss. Sucht mal beim Papa in der Schublade, da liegt die Sabbath Platte bestimmt noch rum. Give it a spin!
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Im surfpoppig-leichten „Hard Drive Gold“ beschreibt uns alt-J, wie gewöhnlich und einfach es doch geworden ist, die Millionen von daheim aus zu machen, ohne wirklich dafür arbeiten zu müssen. Ja, sie ermutigen uns sogar dazu! „Don’t be afraid to make money“. Was sich jetzt wie eine gefährliche Spam-Mail im Postfach eurer Eltern anhört, ist tatsächlich inzwischen Realität. Digitales Geld lässt sich beispielsweise mit einem entsprechend starken Rechner heutzutage „generieren“, der Traum vom goldscheißenden Esel ist wahr geworden. Und der im Song skizzierte Teenager mit den millionen Bitcoins auf dem Konto existiert, ganz sicher auch in deiner Nachbarschaft! Vielleicht ist euch in letzter Zeit auch schonmal aufgefallen, dass sich unsere Freunde und Bekannte mittlerweile Dinge (Häuser) kaufen, während wir so das Pfandgeld abzählen und hoffen, dass es mal für eine Avocado zum Frühstück reicht? CRYPTO, LEUDE!
Schon allein wegen solcher Storys bin ich mir sicher, dass wir alt-J irgendwann als wichtige historische Quelle der Post-Moderne zu Rate ziehen werden. Denn auch weiterhin finden sich auf „The Dream“ viele popkulturelle Referenzen, Kurzgeschichten und Trivia. Allesamt bezeichnend für unsere Epoche. Schon auf dem ersten Album entwickelte Joe eine ganz besondere Form des Storytellings, das historische oder literarische Ereignisse aufgreift und sie aus ungewohnten Perspektiven wiedergibt. Da wäre zum Beispiel „Matilda“, über einen Charakter aus „León der Profi“. Oder „Taro“ über eine Episode aus dem Leben der Kriegsfotografin Gerda Taro. Oder auch „Fitzpleasure“, der den gewaltsamen Tod einer Prostituierten aus der Kurzgeschichte „Tralala“ von Hubert Selby Jr. neuinterpretiert.
Code word: Ice Cream
In „The Actor“ geht es, wie es der Titel vermuten lässt, um einen Schauspieler. Aber auch um Misserfolg, Kokainhandel und das legendäre Skandal-Hotel „Chateau Marmont“ in L.A.
Ganz passend zu diesem Thema, teleportiert uns der Sound des Songs zurück ins schillernde Hollywood der 1980er: ein gedämpftes Drumset mit einem kurzen Hall auf der Snare, ein analog anmutender Synthesizer und eine schimmernde U2-E-Gitarre. Dazu ein weißes Jacket und Glanzlichter auf 100% und Hall & Oates wären geklont — bei uns in Deutschland nannte man so etwas „Modern Talking“.
Aus der Perspektive eines mutmaßlich erfolglosen Schauspielers, bringt uns alt-J die Lebensrealität dieser erbarmungslosen Branche in den 80er Jahren nahe. Während dieser Schauspieler immer wieder versucht, Rollen zu bekommen und mit Konkurrenten in vollen Wartezimmern der Auditions ausharrt, lockt das Kokain. Und diesem Falle nicht nur als Muntermacher, sondern auch als lukrativer Nebenerwerb mit Folgen. Code word: Ice Cream. So wird auch der Protagonist Zeuge eines eventuell durch ihn verursachten Drogentods:
„Swarm of TV cameras click and stumble at the Chateau,
Later I hear John’s body got carried out“
Sehr wahrscheinlich, dass hier explizit auf den Tod des Schauspielers John Belushi („Blues Brothers“) angespielt wird, der 1982 in besagtem Hotel an einer Überdosis starb. Also liebe Kinder, keine Macht den Drogen! Coca-Cola ist ok. „Cold and sizzling“
Verbranntes Fleisch und Nackenhaare
Wer ein wenig recherchiert, wird schnell merken, dass True Crime auf „The Dream“ einen wesentlichen Einfluss auf Joes Lyrics nimmt. Er nennt True Crime-Podcasts, besonders während der Lockdowns, eine wichtige Inspirationsquelle. Die teils verstörenden Bilder, die er mit seiner ruhigen Stimme für uns kreiert, haben es auf jeden Fall in sich. So werden wir in „Happier When You’re Gone“ Zeuge, wie sich eine Frau aus einer gewaltsamen Beziehung befreit und ihren Peiniger kurzerhand umbringt und verbrennt. Die makabere Beschreibung des Geruchs von verbranntem Fleisch in Verbindungen mit dem gechillten low-tempo Track, beschwört eine Gänsehautstimmung, die man sonst nur aus Psycho-Thrillern kennt.
Apropos, im Song „Losing My Mind“ wird es noch düsterer. Hier werden wir musikalisch zunächst ebenfalls von einem ruhigen ersten Teil empfangen, der immer mehr zu einem schwungvollen Britpop-Song mäandert. Im Text tauchen wir ab in die Psyche eines Serienkillers, zum Teil posthum geschildert aus der Perspektive eines entführten Kindes. Da stellen sich bei mir jedenfalls die Nackenhaare schon gen Himmel. Vor allem, wenn da diese eine Line auf Deutsch mittendrin wie eine Botschaft direkt aus der Hölle empor crawlt. Naja, ich bin zwar insgesamt kein besonders großer Fan von True Crime-Podcasts, aber in dieser Form könnte ich mich daran gewöhnen. Zumindest schlafe ich hier nicht ein.
„Montag
You’re in drag,
Oh es war einfach.“
Tränen, Techno, Opera
Eines der absoluten Highlights auf „The Dream“ ist für mich „Get Better“, das sich als Langzeit-Grower in meinen Kopf gefressen hat. Ich glaube, es ist der emotionalste Song, den alt-J jemals geschrieben hat. Und er braucht so erschreckend wenig. Nur eine Akustikgitarre, ein paar Klavierakkorde und Joes sanfte Stimme. So verständnisvoll und sensibel schildert er Krankheit und Verlust eines geliebten Menschen, dass man sich fast nicht vorstellen kann, hier eine fiktive Geschichte zu Gehör zu bekommen. Rührend finde ich auch, dass er die erste Skizze dieses Songs seiner Freundin gewidmet hat, die zu dieser Zeit unter starken Regelschmerzen litt. Ich habe es schon immer gewusst, es sind einfach tolle Menschen.
„A younger you and a younger me,
meeting at the Serpentine,
I am yours, you are mine.”
Kommen wir noch zu zwei Herzstücken, die dieses Album ganz besonders machen, weil alt-J damit in ihrem Oeuvre stilistische Nova etabliert. Beide Titelnamen sind von großen US-amerikanischen Metropolen entliehen und heißen zum einen „Chicago“, zum anderen „Philadelphia“. Ersteres beginnt im buchstäblichen Sinne mit einem Donnerschlag, der in ein gezupftes Gitarrenintro übergeht. Danach scheint sich dieser Song komplett um 360º zu drehen. Wir hören eine Bassdrum, die in Viertelnoten aus der Versenkung zu Pumpen beginnt. Techno? House? Ja, Leute! Das hättet ihr nicht erwartet, oder? Dieser Track ist so sick! Die heftigen Kopfnick- und Tanzreflexe, die er bei mir ausgelöst hat, werde ich nie vergessen. Musikalisch könnte man hier tatsächlich auch eine Parallele zum Namensvetter ziehen, denn in Chicago hat sich in den 80er und 90er Jahren der House-Musikstil in besonders aufregender Form entwickelt und prägt Generationen von DJs und Musiker*innen bis heute.
„Philadelphia“ bedient sich ebenfalls an einem Genre, allerdings springen wir hier nochmal etwa 100 Jahre zurück und befinden uns in der Oper der Romantik. Gut, das war jetzt hauptsächlich kluggeschissen. Aber dieses immer wiederkehrende, markante Sample des Wortes „Philadelphia“ hört sich nunmal sehr nach klassischem Gesang an. Ich warne hier direkt: Ihr werdet es nicht mehr aus euren Köpfen bekommen. Ihr werdet nie wieder den Namen dieser Stadt lesen können, ohne ihn derartig schwülstig im Kopf mitzuträllern!
In der Pressemitteilung habe ich gelesen, dass auf „The Dream“ alle Vocal-Samples von der Band selbst, sowie von Familie und Freunden aufgenommen wurden. Bei diesem Song kann ich es mir eigentlich kaum vorstellen. Falls es aber stimmt, sollte jene Person vielleicht ernsthaft über eine Bewerbung bei Britain’s Got Talent nachdenken.
“Your reassurances subtitled in American English”
Wer alt-J gerne und oft hört, wird bereits festgestellt haben, dass sie sich auf ihren bisherigen Alben oft an Genre oder speziellen Genremerkmalen orientiert haben. Ganz besonders merkt man eine Affinität zu keltischen/mittelalterlichen Musiken auf „This is All Yours“, die sich in Songs wie „Nara“, „Every Other Freckle“ oder „Garden of England“ besonders zeigt.
Ich meine, auf „The Dream“ auch ein neues, verbindendes Genre herausgehört zu haben: Viele der Songs wirken auf mich sehr amerikanisch. Vor allem der Blues und der Gospel mischen sich hier immer häufiger unter. „Hard Drive Gold“, „Walk a Mile“ und ganz zum Schluss „Powders“, dieser mit seltenem, aber astreinen E-Gitarrensolo, weisen allesamt Bluesstrukturen auf. Der kurze Skit „Delta“ erinnert sogar stark an typische Traditionals, quasi die Vorfahren des Blues. In „Walk a Mile“ gibt es im Text gleich eine typisch amerikanische Sehnsucht als Souvenir mit auf den Weg. Ich stelle mir glühende Hitze, abgelaufene Lederboots und eine laaaange Reise bis zum Ziel vor. Schlagzeuger Thom mag diesen Song übrigens am liebsten:
Fazit
Je tiefer ich in dieses Album eintauche, desto mehr entdecke ich. Meine Worte können diesem Album letztendlich nicht gerecht werden. Ich will daher gar nicht mehr viele davon verlieren. Ich will, dass ihr das Album hört!
Freut euch auf Melodien, die das Verlangen wieder für ein paar Jahre stillen dürften. Es gibt ikonische Slogans, tolle Geschichten und, nicht zu vergessen, Romantik pur. Denn im Kern geht es um Liebe: Sehr verliebt sein, sehr verletzt sein, sehr irrationale Dinge deswegen anrichten. Ein bisschen wie „Sex, Drugs & Rock’n’Roll“ quasi, aber eher „Love, Drugs, Murder & Blues“. Alt-J machen aus mir den Hauptcharakter in einem Coming of Age-Roman. Egal, wie alt ich bin. Hier darf ich ausnahmsweise alles sehr stark fühlen, ich darf weinen, ich darf über banalen Humor lachen. Und das jetzt schon zum vierten Mal.
Fotocredit: Rosie Matheson, George Muncay