Die Beatles haben ihre allerletzte Single herausgebracht! Was für eine Nachricht. Dass diese Schlagzeile im Jahre 2023 überall zu lesen ist, würden George Harrison und John Lennon vermutlich nicht einmal selbst glauben. Dennoch ist zumindest ein Fünkchen Wahrheit dran an diesem Satz. Die gesamte Medien- und Musikwelt, vor allem aber so ziemlich alle Beatles-Fans sind ziemlich aus dem Häuschen.
Auch ich kann es immer noch nicht so recht fassen. Die musikalischen Helden meiner Kindheit und Jugend bringen trotz Trennung vor 50 Jahren und nur mit halber Besetzung JETZT in 2023 einen NEUEN Song heraus? Und dann auch noch die LETZTE Single? Schreibt die größte Rockband aller Zeiten, deren Vermächtnis ein halbes Jahrhundert zurück liegt in der Gegenwart etwa Musikgeschichte?
Ein kurzer Rückblick
Gegen Ende der 60er ist die Band laut eigenen Aussagen von musikalischen und vor allem zwischenmenschlichen Problemen geprägt. Diese Spannungen sind unter anderem in der vor zwei Jahren erschienenen Dokumentarfilmreihe Get Back zu sehen. Nachdem immer wieder einzelne Mitglieder der Beatles ausgestiegen und wieder zurückkamen, verließ Paul McCartney 1970 die Band endgültig und machte das Ende der Beatles offiziell, indem er die übrigen drei Musiker verklagte.
Im gleichen Jahr hatte jeder Ex-Beatle bereits mindestens ein eigenes Soloalbum veröffentlicht. Auch wenn es in Studiosessions vereinzelte Zusammenarbeit gab, sah man nie wieder alle Bandmitglieder zusammen in der Öffentlichkeit. Lennon zog sich 1975 sogar komplett aus der Öffentlichkeit zurück und wurde kurz nach seinem Comeback 1980 in New York erschossen. In der Zwischenzeit nahm er in seiner Wohnung zahlreiche Demos auf, die nicht auf seinem letzten Album Double Fantasy landeten – darunter auch Now And Then.
Jahre nach Lennons Tod gab seine Witwe Yoko Ono einen Teil dieser Demos an Paul McCartney, der 1995 diese dem Rest der Band aufarbeitete und schließlich den Song Free As A Bird veröffentlichte. Dasselbe wurde auch mit Now And Then versucht. Durch die Aufnahmequalität und der Überlagerung der Stimme durch das Klavier schien dies zu dem Zeitpunkt aber nicht möglich. Das hat sich jetzt geändert. Mit Hilfe von künstlicher Intelligenz hat man es jetzt geschafft, Lennons Stimme zu isolieren und die Aufnahme studiotauglich zu machen.
Die erste Welle der berechtigten Euphorie über Now And Then ist nach tausendfachem Hören nun abgeflacht und für mich kommen zwei zentrale Fragen auf, mit denen sich die Medienwelt scheinbar wenig beschäftigt. Trotz des hohen Stellenwertes der Beatles oder vielleicht sogar gerade deswegen gibt es Dinge an der Single, die es sich kritisch zu hinterfragen lohnt.
Warum die Veröffentlichung?
Eine Frage, die viele Antworten kennen könnte. Liegt es am Geld? Wohl eher nicht. Alle Beteiligten, damit seien nicht nur Musiker und Produzenten gemeint, sind nicht gerade knapp bei Kasse. Neben Paul McCartney und Ringo Starr tauchen auf der Liste der Verantwortlichen zahlreiche hochrangige Namen, wie Giles Martin (Sohn des berühmten Beatles- und Abbey Road Studios Produzenten George Martin) oder Peter Jackson (Filmregisseur unter anderem von Herr der Ringe) auf. Auch Universal wird mit den Beatles jährlich noch immer Millionenbeträge einfahren.
Eine eher plumpe Vermutung wäre, die Veröffentlichung als ein Act of Service für die Fans anzusehen. Denn wenn Abba mit einem neuen Album und Avatar-Live-Show kommen und niemand geringeres als die Rolling Stones jetzt auch noch ein Album veröffentlichen, muss McCartney ja auf jeden Fall nachlegen. Auch 2023 soll die nervigste Frage der Musikgeschichte klar mit „Beatles!“ beantwortbar sein. Zumindest scheinen die Beatles noch mithalten zu müssen.
Letzten Endes wird mit Now And Then meines Erachtens versucht, auch jüngere Menschen auf den Beatles-Zug aufspringen zu lassen. Das heiß diskutierte Thema KI könnte nicht mehr in aller Munde sein als zu diesem Zeitpunkt. Hier sogar als Schlüsselrolle in der Musikgeschichte. Vielleicht wird sogar in Vorbereitung auf die kommenden Neuveröffentlichungen des roten und blauen Albums eine breitere Zielgruppe mit Aktualität und Emotionalität angesprochen.
Ist Now And Then wirklich ein Beatles Song?
Zwei vorhin angesprochene Dinge prägen bei der Single also den Vordergrund: KI und Emotionalität. Das vermeintlich wichtigste in Bezug auf die Frage nach Originalität des Songs sei zuerst geklärt: Hier wurde nichts mit KI künstlich hinzugedichtet. Alles, was zu hören ist, ist in der Urform organisch. Selbst die Besetzung ist die originale. Es wurden sogar Backingvocals der Songs Here, There And Everywhere, Eleanor Rigby und Because hinzugefügt.
Die Sache der Emotionalität ist eine kompliziertere. Natürlich freuen sich gerade alle sehr, Neues von ihrer Lieblingsband zu hören. Und dann auch noch ein so mehrfach interpretierbarer, emotionaler Song aus Lennons Feder, von McCartney arrangiert – endlich wieder ein echter Lennon/McCartney. Dazu kommt die ganze verbliebene Beatlesfamilie wieder zusammen, selbst Produzentensohn und alle freuen sich riesig ein Teil davon zu sein.
“Now and then
I miss you
Oh, now and then
I want you to be there for me”
Ähnlich wie bei Free As A Bird, ist dieser Song aber eine Solokomposition von John Lennon aus 1979. Now And Then war weder als Beatles-Song geschrieben noch geplant worden und ist zu einer Zeit entstanden, in der sich vor allem Lennon und McCartney nichts mehr zu sagen hatten. Letzten Endes wurde sich posthum über Lennon hinweggesetzt und jetzt wird von allen Seiten versichert, dass er den Song geliebt hätte. Über die tatsächliche Meinung kann nur spekuliert werden.
Now And Then: Ein bedeutendes Stück Musikgeschichte
Die neue und letzte Beatles-Single ist so oder so ein gelungenes Werk. Now And Then lässt mein Herz definitiv höherschlagen, zeitgleich zwingt mich die übertrieben einseitige Emotionalität der Verantwortlichen und der Medien die Aufarbeitung und Veröffentlichung des Songs eher kritisch zu hinterfragen. Nichtsdestotrotz muss man sich immer vor Augen führen: Die größte Rockband aller Zeiten fand 1970 ihr Ende und veröffentlicht erst 53 Jahre danach ihren letzten Song. Es geht vermutlich genau darum. Um das Schreiben von Musikgeschichte.