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Angst, Wut, Verlangen und der innere Alltag: Leftovers sind „Müde“

„Eine Angststörung besteht, wenn Angstreaktionen in eigentlich ungefährlichen Situationen auftreten. Die Angst steht in keinem angemessenen Verhältnis zur tatsächlichen Bedrohung. Betroffene erleben die Angst dennoch psychisch und körperlich sehr intensiv.“

Dies ist nicht nur die erste Definition des Begriffs „Angststörung„, wenn man ihn bei Google eingibt, sondern auch die eindrückliche Eröffnung des Anfang November erschienen Albums Müde. Mit Rock, Punk und Grunge schaffen es die Wiener Leftovers, das Gefühl der Teenage-Angst auf eine unglaublich intensive und aktuelle Art und Weise zu verarbeiten und neu zu interpretieren. Wobei sie das Gefühl nicht nur verarbeitet, sondern eher durchgekaut und uns Mitten in’s Gesicht ausgespuckt haben, sodass wir uns am Ende auch noch dafür bedanken. Das Album ist hart, roh, dunkel und ehrlicher, als die meisten deutschsprachigen Rockbands es wagen zu versuchen.

Müde fängt die verschiedensten Tiefen und die treibenden Kräfte der Adoleszenz ein. Und das nicht nur durch ihre eindringlichen, bildlichen Texte, sondern auch durch die musikalische Wucht, vor der man weder weglaufen, noch sich verstecken kann. Das Album schubst seine Hörer:innen durch tiefe Wunden und Schmerzen, rebellierende Hoffnungslosigkeit und sehnliches Verlangen. „Es tut weh und dabei weiß ich nicht mal was“, damit verpacken die vier Anfang 20-jährigen Wiener*innen den Drang danach ein „Mehr“ zu finden in ein Album, das wie ein nächtlicher Begleiter fungiert. Die Frage nach der Sinnlosigkeit des Lebens und dem Überleben zwischen den Massen der Großstadt ziehen sich wie ein roter Faden durch die Tracks hindurch. Obwohl so viel Angst in den Songs steckt, schreien die Leftovers diese wenigstens selbstsicher und leidenschaftlich heraus.

Das Album schaut mit müden Augen und Außenseiter-Attitüde zu, wie der Rest der Masse sein Leben irgendwie zu bewältigen scheint. Kalte Luft, dunkle Gassen im grellen Laternenlicht, Lederjacken, Zigaretten, billiges Bier und wirre Gedanken, es bilden sich eigenständig klare Bilder einer vermittelten Stimmung. Zudem regt jeder Track des Albums das Main Character-Syndrome an, als wäre man der Hauptdarsteller:in in einem Melancholie geprägtem Film. Songs wie Gegen die Wand könnten ohne Zweifel über einer Skins UK Folge laufen und das Gefühl des schmerzvollen Erwachsenwerdens passend genauso dramatisch und aufrichtig zugleich untermalen, wie das Gefühl der Serie, die eine ganze Generation prägte.

Dabei ist es kaum zu glauben, dass zwischen ihrem Album Krach und dem jetzigen Müde nur ein Jahr liegt. Die Band scheint in diesem Jahr ein Gefühl für Konzepte und eine genaue Vorstellung davon entwickelt zu haben, was sie sie eigentlich musikalisch tun wollen. Denn obwohl Müde ebenso gewaltig und ehrlich klingt wie sein Vorgänger, merkt man die deutliche Steigerung und Ausarbeitung besonders musikalisch. Währenddessen schafft die Band es, dass man ihnen zu keinem Zeitpunkt vorwerfen würde, ihre DIY-Punk-Art nur aufgesetzt zu haben.

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Tracks wie System und Fick Dich beanspruchen Energie und ziehen Hörer:innen in den gedanklichen Moshpit rein, während Tracks wie Bellen und Du schmeckst so gut an der zu verzweifelnden Melancholie zehren und 15. Bezirk die Untergrund-Anti-Hymne Wiens bildet. Man gewöhnt sich in der bestmöglichen Weise schnell daran, sich von Sänger Leonid anschreien zu lassen. Aber auch Anna, die auf Ohne Dich und du bist schon tot bevor du lebst tiefe Emotionen und ungeklärte Fragen besingt, steuert dem Album eine Menge Frische bei. Alle vier Bandmitglieder schreiben, spielen, singen und sind gemeinsam präsent. Ihr Auftreten erinnert ebenfalls an eine besondere Gang in einem Misfits-Coming of Age-Film. Jeder Song auf dem Album erzählt eine Momentaufnahme einer tragischen Geschichte – oder doch eher bloß des Alltags? Gemeinsam ergeben sie ein Ganzes, das so gut zusammenpasst und organisch harmoniert, wie es gleichzeitig Bauchschmerzen bereitet.

Punkrock ist definitiv nicht tot und hier wird er nicht einfach wiederbelebt, sondern als Hommage genutzt, aber in eine erschreckend zeitgemäße, selbstfunktionierende Version verpackt. Das Album ist weder anständig, noch brav, noch anpassungsfähig, dennoch etablierte sich die Band in der deutschsprachigen Indieszene. So betrachtet sehen die vier Leftovers aus wie Punks und verhalten sich wie Punks. Sie ziehen ihr schweres Ding durch den dichten Dschungel der Indie-Pop und Techno-Rap Tracks durch, ohne sich auch nur einen Millimeter zu verbeugen. Daher scheint es ihnen vollkommen egal zu sein, dass laute Gitarrenmusik nicht im Trend liegt und bauen etwas auf, das gerade nur wenig in der deutschsprachigen Musiklandschaft vertreten ist. In einer Ära, in der viele Künstler:innen dem Ruf der deutschen Hauptstadt folgen, bleiben Leftovers nicht nur ihrer Attitüde, sondern auch ihrer Heimatstadt treu: „Ich steh auf Saufen, nicht auf Ziehn‘ / Ich komm aus Wien und nicht Berlin / Fick dich!“

Ich bin mir nicht mal sicher, ob sich Müde mehr nach einem Fiebertraum oder mehr nach brutaler Realität anfühlt. Wahrscheinlich ist genau diese schwammige Grenze der präzise getroffene Ausgangspunkt. So oder so, begleitet es mich durch meine verwirrendsten Gedankengänge und gibt diesen einen eigenen Raum um zu existieren und laut zu sein. Somit haben sich die Leftovers auf den Platz meines Lieblingsalbums des Jahres durchgekämpft.

Im Dezember 2023 ist die Band auf dazugehöriger Tour, hier findet ihr alle Shows.

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Foto Credit: Anna Francesca

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